Erstaunlich viele Menschen teilen gerade ein Lebensgefühl: Es läuft nicht gut. Ich erspare euch die anekdotische Evidenz; die seht ihr vermutlich im Freundeskreis, so wie ich sie in meinem sehe. Stattdessen ein paar Zahlen des Slack Future Forums: Führungskräfte berichten 15 Prozent geringere Zufriedenheitswerte, eine um 20 Prozent verschlechterte Work-Life-Balance und 40 Prozent mehr Stress und Ängste. Unter Frauen und jüngeren Arbeitnehmenden stiegen die Erschöpfungswerte zuletzt rapide an. Kurz: Es läuft nicht gut.
Dahinter stehen die großen Probleme unserer Zeit: Krieg, Inflation, die Tech-Krise, in der wir schon mittendrin stecken und die im ersten Schritt Jobs kostet und im zweiten die Gruppe der Selbstständigen runterreißen wird. Arbeitsbedingungen sind ein Problem, außerdem der Wandel der Präsenzkultur, auf den so viele gehofft hatten und der gerade so massiv gestoppt wird.
Bla bla Krise als Chance bla bla bla
Weil die Ängste steigen, steigt auch der Druck: Alle wollen so viel wie möglich vom schrumpfenden Kuchen abhaben. Klingt nach Krise, fühlt sich an wie eine Krise, ist eine Krise. Krisen sind Wendepunkte, das gilt für das Leben Einzelner wie auch für die Gesellschaft. Mit gesellschaftlichen Debatten und Veränderungen können wir tatsächlich eine bessere Arbeitswelt schaffen. Aber wenn wir ganz ehrlich sind: Die meisten von uns sind doch viel zu k.o., um die Revolution des Arbeitslebens einzuleiten. Und was bringt uns ein Wendepunkt, wenn wir das Steuer kaum noch halten können?
Der Gedanke, Krisen als Chancen zu betrachten, wird damit hohl. Das Problem wird in den individuellen Raum verlagert: Erst einmal das Leben auf die Reihe kriegen, dann sehen wir weiter. Wir leben in einer Gesellschaft, die von denen gestaltet wird, die genug Energie haben, um sie zu gestalten. Diese Energie haben sie in der Regel, weil sie genügend Unterstützung bekommen oder genügend Macht und Privilegien, um nicht ständig kämpfen zu müssen. Oder eben alles drei. Krisen sind Chancen – nur halt nicht für jeden.
Die Freiheit, Nein zu sagen
Für die meisten Menschen sind Krisen anstrengend, sie machen krank und unglücklich, sie vergiften die Zeit, die wir mit unseren Liebsten verbringen. Die Trends der Great Resignation und des Silent Quittings können wir niemandem vorwerfen, wenn die Arbeitsbedingungen nicht mehr zu dem Lebensweg passen, den die Menschen gehen wollen.
Vor diesem Hintergrund ist es für die Betroffenen rational, sich ins Private zurückzuziehen und eigene Lösungen zu suchen. Silent Quittung bedeutet, dass Menschen Grenzen setzen. Das ist ihr Recht. Wer sich auf seine eigenen Bedürfnisse zurückzieht, der wählt damit vielleicht die letzte Freiheit, die geblieben ist: die Freiheit, Nein zu sagen.
Unter Druck können wir nicht denken – in Angst sowieso nicht. Gut leben und arbeiten können wir so auch nicht. Das Gehirn tut bei Stress etwas sehr Kluges: Es schaltet alles ab, was nicht notwendig ist. Das hat sich evolutionär so bewährt, denn wer sich auf das Wesentliche fokussiert, der überlebt. Lies den Absatz noch einmal. Daraus folgt: Was das Gehirn mit dem Körper tut, das können wir auch. Die Strategie hat sich bewährt. Wir fokussieren uns auf das Wesentliche.
Die Krise der Arbeit ist keine Chance. Diese Krise ist ätzend und eine Sackgasse und lähmend und schuld daran ist die Tatsache, dass noch immer so viele Menschen Macht haben, die dafür kämpfen, dass der Job im Fokus des Lebens steht und andere Bereiche zurücktreten sollen.
Freie Gestaltung braucht Platz
Also an all die Menschen da draußen, die sich zerrissen fühlen zwischen Pflicht und Sehnsucht: Das ist dein Leben! Du musst die Firma nicht retten, du kannst aber. Du musst die Welt nicht retten, du kannst aber dazu beitragen. Aber nichts Gutes wird aus dieser Krise erwachsen, wenn du dich nicht für dich selbst entscheidest. Du brauchst deine Ressourcen, um dein Leben zu gestalten, sonst bewirkst du gar nichts.
Aus schlechten Zeiten erwachsen gute Ideen, so geht ein Sprichwort. Ideen haben Menschen nur dann, wenn sie Raum dafür finden, welche zu entwickeln. Raum finden ist natürlich Quatsch, denn dann müssten wir in einer Gesellschaft leben, die Räume lässt und das tun wir nicht. Also schaffen wir Räume. In die Mitte dieser Räume stellen wir eine ganz entscheidende Frage: Wie wollen wir leben?
Die Angst vor dieser Frage ist unbegründet. Für fast alle Menschen spielt Arbeit auch in einem selbstbestimmten Leben eine Rolle. Aber sie verändert sich vielleicht. Wenn die Bedürfnisse klar sind, dann ändern sich die Ansprüche und Dinge können in Bewegung kommen. Sie müssen es sogar, weil der dauerhafte Krisenzustand kein gutes Leben ermöglicht. Aus einem „es gefällt mir nicht“ kann ein „ich will es zu meinen Bedingungen“ werden. In diesen Erkenntnissen liegt Klarheit. In dieser Klarheit liegt die Macht, die nötig ist, um die Welt zu verändern. Erstmal die eigene – und dann den ganzen Rest.