Otto-CEO Birken: „Wir brauchen kein Green-Washing, wir folgen unserer DNA“
Wenn man für ein Podcast-Interview mit dem Otto-CEO nach Hamburg-Bramfeld fährt, fühlt es sich nicht unbedingt so an, als ob man ins Herz der deutschen Digitalisierung vorstößt.
Man sieht die vier großen roten Buchstaben auf dem Dach eines riesigen Gebäudes aus Beton und Glas mit undefinierbarer Form. Man denkt sofort an den faustdicken Katalog und die Nummern, die man am Telefon durchgegeben hat, wenn man sich dort in den 90ern einen weißen Champions-Pullover oder eine Adidas-Knopfhose bestellt hat. Champions-Pullover und Knopfhosen sind wieder angesagt. Nur den Katalog gibt es nicht mehr.
Im Gegensatz zu den Marken Neckermann und Quelle konnte die Otto-Gruppe ihr Geschäft ins Internet hinüberretten. Die Otto-Zentrale in Hamburg-Bramfeld heißt jetzt Campus. Man kann mit dem Fahrstuhl in die umgebaute Vorstandsetage hochfahren. Dort ist jetzt natürlich alles offen und hell und der Teppich ist weich und im Büro von CEO Alexander Birken kann man an die Wände malen und niemand hat mehr Krawatten an und alle sind per du.
Aber es gibt zwei Arten von „du“: Ein du mit kleinem „d“, und eines mit großem „D“. Das du mit kleinem „d“ ist das „du“, über das man überhaupt nicht nachdenkt. Das „Du“ mit großem „D“ ist eines, auf das man sich erst einigt. Und hin und wieder rutscht einem dann doch noch ein „Sie“ heraus.
t3n: Herr Birken, die Otto Group ist stolz auf ihren Kulturwandel – heißt das, wir können uns auch duzen?
Alexander Birken: Ich bin sehr für das Duzen, ich habe grundsätzlich meine Default-Stellung auf „Du“.
t3n: Kam das erst mit dem Kulturwandel bei der Otto Group?
Damals jedenfalls haben wir als Konzernvorstand allen Kolleginnen und Kollegen ganz bewusst das Du angeboten. Im Zuge des Kulturwandels haben wir uns gefragt, wie sich Silos und Barrieren abreißen lassen, damit wir direkter und unmittelbar miteinander kommunizieren und Ideen sich besser entwickeln können. Die Antwort war, dass es leichter ist, vom Du zum Wir zu kommen als vom Sie zum Wir.
t3n: Und, hat das Unternehmens-Du geholfen, zum Unternehmens-Wir zu kommen?
Ja, definitiv. Aber der Kulturwandel umfasst viel mehr. Es geht darum, mit 52.000 Menschen so viel Kraft, Agilität, Flexibilität und Geschwindigkeit zu erzeugen, dass wir in diesem Wettbewerb Amazon und anderen Marktteilnehmern tatsächlich Paroli bieten können – auf unsere Art und Weise. Das Du trägt dazu bei.
„Es wäre schwierig, das gleiche wie Amazon zu tun.“
t3n: Das Du war ein Schritt, zu sagen: „Wir wollen nicht unbedingt schneller, höher und weiter als Amazon sein, sondern uns als Otto Group eher auf Werte konzentrieren?“
Das ist aus meiner Sicht kein Widerspruch. Gleichzeitig hat Amazon aber in Größe und Dimension einen Punkt erreicht, an dem es im Wettbewerb sehr schwierig wäre, wenn wir versuchen würden, genau das Gleiche zu tun. Deswegen ist unsere Antwort: Wir müssen einen anderen Weg gehen.
t3n: Wie sieht der Weg der Otto Group in der Digitalisierung konkret aus?
Wir müssen doch alle feststellen, dass florierende Geschäftsmodelle aus den USA und China auf einem anderen Wertegerüst basieren. In den USA ist Freiheit das große Thema. Danach kommt lange nichts. Die Frage nach einer möglichen Reglementierung durch den Staat stellt sich gar nicht oder erst viel später. In China gibt der Staat vor, was unter Freiheit zu verstehen ist – und dann wird mit viel Kraft entsprechend produziert. In Europa dagegen haben wir, basierend auf der sozialen Marktwirtschaft, Freiheit immer schon mit Verantwortung gekoppelt. Gerade mit Blick auf die Herausforderungen der Digitalisierung müssen wir uns aber aus meiner Sicht fragen, ob wir in Europa nicht vielleicht etwas mehr Freiheitsdenken benötigen – auch um experimentierfreudiger werden zu können. Umgekehrt würde den USA ab und an ein gesundes Maß an Skepsis guttun, beispielsweise beim Umgang mit Daten.
t3n: Aber muss aus dieser Idee des Kulturwandels nicht letztendlich eine Strategie werden, mit der die Otto Group den Marktanteil in Europa und in Deutschland sichern kann?
Der Kulturwandel ist die Basis. Wir verfolgen eine fokussierte Wachstumsstrategie. Im Übrigen gibt es nicht die eine Antwort auf die Frage, wie wir im Wettbewerb bestehen können, sondern mehrere. Nehmen wir das Thema Inspiration: Wenn wir über den großen Anbieter aus Seattle nachdenken, fallen mir viele Begrifflichkeiten ein, aber nicht das Wort „Inspiration“. Inspiration ist aber definitiv ein Ansatz, über den sich Geschäftsmodelle sehr gut auch in einer größeren Dimension entwickeln lassen. Das zeigen wir mit About You – ein extrem inspirativer Fashion-Anbieter, der im Augenblick mit circa 70 Prozent gegenüber Vorjahr wächst.
t3n: Abgesehen von About You – wie sieht der Plan für den Rest des Unternehmens aus?
Wenn ich auf die Einzelgesellschaft Otto selbst schaue, geht es um Begrifflichkeiten wie fair, transparent, persönlich. Und das ist ein Thema, bei dem wir nicht anfangen müssen, irgendwelche Etiketten zu schneidern und Green-Washing zu betreiben, sondern basierend auf einer jahrzehntelangen Tradition einfach unserer DNA folgen. Wir wollen fair mit unseren Stakeholdern und Kunden umgehen. Aber wir sorgen auch dafür, dass die Herstellung von Produkten in einer Lieferkette sauber und gut funktioniert. Das heißt, mit möglichst wenig Verbrauch von CO2 oder Giftstoffen. Dass die Leute vernünftige Sozialbedingungen haben, vernünftige Arbeitszeiten, Mindestbezahlung, Urlaubszeiten. Das sind alles Punkte, die uns seit Jahrzehnten wichtig sind. Und im Augenblick merken wir, dass sich das Thema Fairness aus der Nische heraus entwickelt und eine größere Relevanz im Markt bekommt.
t3n: Bei Otto fällt den meisten Menschen zuerst der Katalog ein. Man würde nicht sofort sagen: „Okay, Otto, ein klassisches Fairness-Thema“.
Wir haben das tatsächlich in den letzten Jahrzehnten aus einer inneren Überzeugung heraus getan. Und zugegebenermaßen haben wir viel zu wenig darüber geredet. Wir werden das Thema künftig viel stärker auch in Richtung Konsument kommunizieren. Und trotzdem sehen wir in Kundenbefragungen schon heute ganz deutlich, dass uns genau dieser Fairnessgedanke zugesprochen wird.
t3n: Wenn ich auf otto.de nachschaue, finde ich da, was es im Einzelhandel auch gibt: Nike-Schuhe, Adidas-T-Shirts oder Elektronik. Wirkt jetzt nicht supergrün.
Eine große amerikanische Retail-Kette hat sich kürzlich dazu durchgerungen, Pelze zu verbieten. Da musste ich wirklich grinsen, das wurde bei der Otto Group vor 28 Jahren verboten. Bei Markenartiklern wie Nike und wie Adidas achten wir drauf, dass dort vernünftig produziert wird. Und dann gibt es die Produkte, die wir selbst produzieren. Bei diesen Produkten sind wir zum Beispiel jetzt bei einer Quote von über 90 Prozent nachhaltiger Baumwolle.
t3n: Wäre es nicht konsequenter, solche Dinge wie Fairness und Nachhaltigkeit gesetzlich für Unternehmen festzulegen, statt darauf zu hoffen, dass es freiwillig passiert?
Ich glaube weder an das eine in Reinform noch an das andere. Soll sich die Politik komplett raushalten, die Wirtschaft wird schon alles regeln? Daran glaube ich nicht. Ich glaube genauso wenig, dass die Gesetzgebung alles regelt und dann ist die Welt gut. Ich sehe schlichtweg auch aus Eigeninteresse eine Verantwortung bei uns. Dass dieser Weg der richtige ist, bestätigen mir gerade auch unsere jungen Kolleginnen und Kollegen, die mir sagen: „Ihr kümmert euch.“
„Spätestens seit Greta Thunberg hat das Thema eine enorme Relevanz bekommen.“
t3n: Kommen all diese Bemühungen beim Otto-Normalverbraucher an? Bestellt der deshalb sein T-Shirt bei Otto statt bei Amazon? Wegen der Werte?
Ohne Haltung wirst du dauerhaft keine Zukunft haben. Selbst wenn man Google, Apple, Facebook und Amazon anschaut – alle sprechen über und proklamieren Werte. Spätestens seit Greta Thunberg hat das Thema eine enorme Relevanz bekommen. In der Breite mag das noch nicht kaufentscheidend sein; die Bedeutung des Themas nimmt aber stetig zu.
t3n: Beim Thema Umwelt redet ja auch die Eigentümerfamilie Otto mit. Ich stelle mir das mit einer Inhaberfamilie vor wie mit einem König: dass es gut ist, wenn der König gut ist, und schlecht, wenn der König schlecht ist.
Dann haben wir, um im Bild zu bleiben, einen guten König und einen guten Prinzen. Was nehme ich wahr, wenn wir über Werte, wenn wir über Kulturwandel und ähnliche Thematiken reden? Zum Beispiel, dass genau das bei rein börsennotierten Unternehmen, ich benutze da gern den französischen Begriff, Societé Anonyme, schwieriger ist. Weil eben gerade keine Familie dahintersteht, die ein bestimmtes Wertegerüst vertritt. Ein Beispiel: Unseren Kulturwandel kann ich kaum mit einem Return on Investment hinterlegen. Anders beim Thema CO2-Reduktion – hier liegen wir übrigens inzwischen bei 47 Prozent im Vergleich zum Start: Da waren die ersten 25 bis 30 Prozent Reduktion hochprofitabel. Die letzten fünf Prozentpunkte, um die wir jetzt reduziert haben, waren dagegen deutlich anspruchsvoller und schwieriger. Wir machen es aber trotzdem, weil wir langfristig emissionsneutral werden wollen.
„Digitalisierung ist kein Sprint. Das ist wirklich ein Marathon.“
t3n: Die Otto Group hat im vergangenen Geschäftsjahr 300 Millionen Euro über Anleihen aufgenommen. Und 90 Millionen an die Familie und ihre Stiftungen ausgeschüttet. Das sieht von außen nicht aus wie eine Familie, die sagt, okay, jetzt geht es ums Ganze, wir müssen das Geld zusammenhalten und sehen, dass wir diese Digitalisierung meistern.
Worüber wir hier reden, ist kein Sprint. Das ist wirklich ein Marathon. Die angesprochenen Ausschüttungen sind normal und angemessen. Ich erlebe unsere Shareholder hier sehr, sehr zurückhaltend, auch was Dividendenwünsche für die Zukunft angeht.
t3n: Wie funktioniert Digitalisierung bei euch? Lässt du dir dann die wichtigsten Neuerungen oder Ideen, die zum Beispiel ein About You hat, pitchen und segnest das ab?
Nein, das wäre für mich kulturell wieder ein Rückschritt in die 90er Jahre. Diese Allwissenheit der Chefs ist ein Relikt aus der Vergangenheit. Wir leben zum ersten Mal in einem Zeitalter, in dem die erfahrenen, top ausgebildeten Manager in vielen Teilbereichen weniger wissen als die jungen. Im Kulturwandel geht es darum, die Ideen, die es bei About You oder bei Otto oder irgendwo sonst in der Organisation gibt, für alle nutzbar zu machen.
„Ich bin auch nicht die Spinne im Netz, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Aber ich bin die Spinne, die dafür sorgt, dass da ein hochstabiles Netz ist.“
t3n: Es gab mal eine Zeit, da sind Unternehmen wie Axel Springer mit vielen Führungskräften ins Silicon Valley gefahren, um sich da nach Ideen umzuschauen. Ist das noch deine Aufgabe, direkt selbst Ideen heranzuschaffen?
Ich glaube, wir waren schon vier oder fünf Jahre vorher im Silicon Valley. Wir sind damals mit vielen unserer Führungskräfte hingereist, um uns mit Startups auseinanderzusetzen. Das hat am Anfang eine gewisse Reaktanz erzeugt. Die Kollegen haben beispielsweise gefragt, was sie da sollen. Was könnte die Otto Group schon von diesen ganzen kleinen Unternehmen lernen? Uns ging es damals darum, Scheuklappen wegzureißen. Ich definiere meine Rolle ganz gewiss nicht so, dass ich als CEO derjenige sein muss, der alle Impulse in die Gruppe gibt. Wichtig ist, dass ich Aufgeschlossenheit erzeuge, und zwar im gesamten Konzern. Ich glaube tatsächlich, dass die Rolle eines CEO in Zukunft demütig gelebt werden sollte. Ich bin nicht der Nabel der Welt. Ich bin auch nicht die Spinne im Netz, bei der alle Fäden zusammenlaufen. Aber ich bin die Spinne, die dafür sorgt, dass da ein hochstabiles Netz ist, das funktioniert.
t3n.de: Du hast vorhin erwähnt, dass du manchmal selbst überrascht seist von den Lebensläufen, die manche Bewerber haben. Was für Lebensläufe meintest du damit?
Wir bekommen zahlreiche Bewerbungen aus der GAFA-Industrie (Google, Amazon, Facebook, Apple), von Leuten, die dort hochlukrative, hochinteressante Stellen innehaben. Wir haben Bewerbungen von Menschen, die in führenden Unternehmensberatungen unterwegs sind, die dort jede Beförderung doppelt so schnell genommen haben wie der Durchschnitt – und die zu uns wollen.
t3n: Aber in der Liga kann die Otto Group ja kaum finanziell mithalten.
Das mag in manchen Fällen so sein. Entscheidend ist aber: Ich erlebe einerseits Menschen, die sagen, ich will richtig viel Geld verdienen. Aber dieser Wunsch steht nicht mehr an erster Stelle. Wichtiger ist der Purpose, wie es in den USA heißt. Sinn und Werte eines Unternehmens werden immer entscheidender.
t3n: Aber ihr seid ja jetzt nicht Greenpeace.
Wir sind auch kein Sozialunternehmen, wir wollen richtig Geld verdienen – am besten künftig noch mehr. Denn wir wollen es uns leisten, auch in Zukunft mit einer Haltung unterwegs zu sein. Bei Bewerbern hilft uns aber vor allem Mund-zu-Mund-Propaganda.
t3n: Kommen dabei dann auch Leute rein, bei denen du denkst: Wow, der ist eine Ecke fitter, als ich es in dem Alter war.
Natürlich, ich treffe zum Beispiel immer wieder auf Data-Scientists. Die fangen dann an, mir ihre Algorithmusmodelle zu zeigen. Da denke ich oft: „In welchem Universum schweben die eigentlich?“
t3n: Wenn du nochmal 25 wärst – an welchem Projekt hättest du Lust, bei der Otto Group zu arbeiten?
Dieses Abenteuer mit About You, als wir angefangen haben, mit einem wirklich großen, dreistelligen Millioneninvestment in etwas völlig Neues reinzugehen, das zu testen, aufzubauen, so etwas mitzugestalten – das ist sensationell und hätte mir ganz sicher viel Spaß gemacht.
t3n: Alexander, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview wurde ursprünglich als Podcast geführt und ist daher stark gekürzt und redigiert. Die vollständige Podcast-Version findest du hier.
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