Es gibt Social-Media-Phänomene, die kommen und gehen. Nur wenige bleiben – aber es sieht so aus, als würde die chinesische App Tiktok zu den langlebigeren dieser Dienste gehören. Seit Monaten ist Tiktok und das dahinter stehende chinesische Unternehmen Bytedance die meistdiskutierte Anwendung im Social-Marketing-Umfeld. Insbesondere Eltern verstehen oft den durchaus nachhaltigen Reiz nicht, den die kurzen Videos auf Jugendliche ausüben. Doch die lange Verweildauer triggert auch Werbetreibende und Marketingverantwortliche, die sich fragen, wie sich die bei Jugendlichen absolut angesagte App für Marketingkampagnen nutzen lässt.
Das Geheimnis und den Reiz hinter Tiktok zu erklären, ist nicht ganz einfach: Tiktok dient vor allem dazu, dass Jugendliche lustige kurze Filmchen, die meist mit Musik unterlegt sind, drehen können. Von der Idee, lippensynchron Lieder mitzusingen, ist man inzwischen ein wenig abgekommen, dafür spielen Wettbewerbe und Aktionen, sogenannte Challenges, unter einem bestimmten Thema oder Hashtag eine immer wichtigere Rolle. Klingt nach einem Spaß für ganz junge Zielgruppen, wobei die Pressesprecherin betont, dass Tiktok durchaus auch Zielgruppen jenseits der 20 oder 25 erreiche und die „Mehrheit der Tiktok-Zielgruppe zwischen 16 und 35 Jahren alt“ ist.
Tiktok: Bislang nur 6 Werbeformate im Angebot
„Wir experimentieren noch viel mit Unternehmen und Marken, um herauszufinden, wie man Tiktok gut monetarisieren kann, was für die Unternehmen und ihre Zielgruppen passt und wie wir Engagement erzeugen können. Dabei entwickelt sich die Plattform extrem schnell weiter – ein enorm spannendes Umfeld“, erklärt Inam Mahmood, Director Monetization and Partnerships für den europäischen Markt von Tiktok. Das Angebot ist auf den ersten Blick übersichtlich und doch vielfältig: Neben den sechs Werbeformaten, die Tiktok derzeit bietet, sind vor allem die Challenges eine gute Möglichkeit, um Engagement zu erzeugen. Das geht, so erklärt Mahmood, für die unterschiedlichsten Themen und Branchen, von Sport über Filme und Musikstars bis hin zu Modelabels und Lebensmittelhersteller. Und so will Mahmood auch weniger über klassische Werbeformate reden als eher über eine Viralität und Funktionsweise der Plattform, die mit den klassischen Mechanismen von Werbung nur schwer zu begreifen ist.
„Wir ermöglichen jedem Creator, sich auf kreative Weise bei Tiktok auszuleben und seine Leidenschaften zu teilen“,erklärt Mahmood. „Derzeit testen wir unterschiedliche Formate mit Marken, wobei wir genau darauf achten, dass diese Formate auch wirklich zu Tiktok passen. Das Nutzererlebnis steht für uns absolut im Vordergrund.“ Die Macher von Tiktok beobachten eine Diversifizierung der Themen und Interessen, erklärt Mahmood, und eine enorme Kreativität seitens der Nutzer, die „Creators“ genannt werden. Kurze Video-Snapshots, die ältere Zielgruppen als Videos à la „Bitte lächeln“ oder „Pleiten, Pech und Pannen“ kennen, sind in rauen Mengen zu finden. Besonders beliebt – mit oder ohne Marketing-Rückenwind – sind dabei die Challenges zu einem bestimmten Thema oder Motto.
„15 Sekunden Freude, echte Menschen, echte Videos“, fasst Mahmood das zusammen, was Tiktok sein soll und will. „Im Kern ist Tiktok eine Plattform für kreative, unterhaltsame und positive Erfahrungen.“ Anders als bei vielen anderen Portalen gehe es aber um Authentizität, die Creator sollen sich so zeigen können, wie sie sind. Das müsse nicht alles glanzvoll sein und könne durchaus eher ein Gegengewicht zu den altbekannten Influencern sein.
Punica entdeckt die Schnelligkeit von Tiktok
Eine spannende Kampagne hat beispielsweise die Marke Punica am Start, die insbesondere die Zielgruppe der 12- bis 14-Jährigen für sich gewinnen will und dafür Social Media – und insbesondere Tiktok – als idealen Kanal entdeckt hat. Man sei sowohl von der Schnelligkeit, aber auch von der Contentqualität überrascht gewesen, die hier durch die Nutzer generiert wurde, erklärt Brand-Managerin Laura Müller gegenüber dem Fachblatt Horizont. Da Tanzeinlagen insbesondere vor einigen Monaten noch sehr beliebt waren, kam man schnell auf die Idee mit dem Hashtag #punicadance – verbunden mit der Frage „Welcher Fruits-Charakter bist Du?“ Als Abschluss der Kampagne folgte ein Recap-Video, quasi der werbende Content zur Verlängerung der Kampagne. Das Ergebnis beeindruckt: 40 Millionen Mal wurden Videos mit dem Hashtag aufgerufen, über 35.000 Videos entstanden dabei.
Genaue Zahlen, wie beliebt Tiktok ist, behält, Bytedance für sich – doch die Zahl von 39 Minuten, die Tiktok-Nutzer im Schnitt täglich (!) mit der App verdaddeln, hält sich hartnäckig. Sie stammt aus einem geleakten Marketing-Deck und wird auch von Bytedance nicht dementiert. Da sie schon einige Monate alt ist, könnten es sogar mehr sein. So genau weiß das keiner außer den Machern selbst. Legt man zu Grunde, dass die Videos im Schnitt gerade einmal 10 bis 15 Sekunden lang sind, wird klar, wie viele Markenkontakte ein Nutzer mit einer Marke haben kann.
Otto: Tiktok spiegelt den Reiz des Unperfekten wider
Davon kann auch der Versender Otto ein Lied singen. Vermeintlich nicht gerade als angesagte Lovebrand bei Jugendlichen bekannt, hat die Hamburger Versandhausgruppe es geschafft, mit seiner Kampagne #machdichzumotto zum 70. Geburtstag von Otto 147 Millionen Views innerhalb von vier Wochen zu erreichen. 59.000 Videos wurden alleine innerhalb der ersten sechs Tage hochgeladen – und dies sei, so Ottos Social-Media-Chefin Sahra Al-Dujaili, durchaus ein beachtlicher Erfolg, mit dem man auch im eigenen Haus nicht unbedingt von Anfang an gerechnet habe. „Wir wollten unsere Marke auch bei den jüngeren Zielgruppen wieder ins Gespräch bringen – und das funktioniert zurzeit hervorragend bei Tiktok, weil sich eben diese Zielgruppen vor allem dort aufhalten.“ Man habe dabei bewusst die Challenge so offen gestaltet und mal abgewartet was passiert. „Wir wollten als Otto die Jugendlichen dazu ermuntern, sich mit der Marke zu beschäftigen, Zeit mit Otto zu verbringen – und sind bewusst in den Hintergrund getreten.“ Das Gros der Ausspielungen erfolgte dabei in Deutschland, der Streuverlust sei minimal.
Tiktok sei eine perfekte komplementäre Ergänzung zu Instagram, wo gefühlt in den letzten Jahren vieles „auf Hochglanz“ perfektioniert worden sei, erklärt Al-Dujaili. „Tiktok ist dagegen fast das genaue Gegenteil, da kann man auch mal ein Missgeschick zeigen, da ist der Reiz des Unperfekten zu beobachten.“ Bemerkenswert sei auch, dass im Vergleich mit anderen sozialen Medien die Bereitschaft, Content zu produzieren noch deutlich höher sei. „Die erste Kampagne war für uns eine Art Abenteuer, weil wir eben noch nicht die Erfahrungswerte hatten, die wir bei Facebook oder Instagram haben.“
Allerdings, betont sie, zeigt gerade dieser Gegensatz, dass eine Kampagne oder Idee für Tiktok individuell gestaltet sein muss – „es bringt hier nichts, einfach die Facebook-Kampagne auf Tiktok zu verlängern“, weiß Al-Dujaili.
Fazit: Marketer müssen das Werkzeug erst verstehen und kennenlernen
„Work in progress“ trifft es bei Tiktok und dem Verhältnis zu den Marketern relativ gut. Die Plattform muss erst noch unter Beweis stellen, dass sie gekommen ist, um zu bleiben. Doch das könnte ihr, betrachtet man die ersten Cases im deutschsprachigen Raum, relativ gut und schnell gelingen – insbesondere auch deswegen, weil die Geschichten und Kampagnen weitgehend ohne Sprachbarriere funktionieren und so für unterschiedliche Märkte etwa im europäischen Kontext ineinandergreifen können. „Wir wollen Unternehmen und Marken dazu animieren, auszutesten, was Tiktok ihnen und den Zielgruppen bieten kann. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten gelernt, dass ein großes Interesse am Markt vorhanden ist“, erklärt Mahmood.
Für Marken ist Tiktok aktuell offenbar auch deshalb so reizvoll, weil einerseits noch der Reiz des Neuen da ist und vieles erst noch am Entstehen ist, die Plattform aber andererseits schon eine beachtliche Größe und damit die entsprechende Relevanz erreicht hat. Wenn man allerdings die Geschwindigkeit, mit der sich Tiktok derzeit wandelt, berücksichtigt, dann wird schnell klar, dass hier noch mehr als bei vielen anderen Social-Media-Plattformen das Know-how eines hierauf spezialisierten Dienstleisters nötig ist, um mit der Entwicklung Schritt zu halten und das Potenzial auszunutzen. Doch auch Tiktok selbst kann gerade in dieser Anfangsphase, in der die Plattform nach Best-Practice-Cases sucht, ein guter Sparringspartner sein.
Das könnte dich auch interessieren:
- Tiktok: Wie die Kurzvideo-App den deutschen Markt erobern will
- Digitalkompetenz bei Digital Natives: Die Gnade der späten Geburt reicht nicht aus