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Kommentar

Überstunden sollen Wohlstand retten: Tim Höttges macht es sich zu leicht

Telekom-Chef Tim Höttges fordert die Deutschen auf, mehr zu arbeiten – zur Wohlstandssicherung. Die Probleme liegen tiefer begraben und benötigen nachhaltigere Lösungen. Ein Kommentar.

5 Min.
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Tim Höttges: „Ich bin der Meinung, wir müssen alle wieder mehr arbeiten.“ (Foto: picture alliance / REUTERS | ALBERT GEA)

Der Telekom-CEO Tim Höttges sagt es auf der Digital X-Konferenz frei heraus: „Ich bin der Meinung, wir müssen alle wieder mehr arbeiten.“ Dass er das sagt, hängt mit einem drohenden Wohlstandsverlust zusammen, den der DAX-Chef auf die deutsche Volkswirtschaft zu rollen sieht. Höttges steht mit dieser Forderung nicht allein, auch der Bundesfinanzminister Christian Lindner hat zuletzt mehr Wochenarbeitsstunden gefordert. Doch wo stehen die Deutschen im internationalen Vergleich?

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Arbeitsstunden: Deutschland, EU, China und USA

Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland betrug 2023 laut Statista 40,2 Stunden. Damit liegen die Deutschen knapp 0,2 Stunden unter dem EU-Durchschnitt von 40,4 Arbeitsstunden. Der Anteil dieser Arbeitsleistung ist dabei zuletzt gestiegen – wie auch der Telekom-Chef während seiner Rede feststellt –, da mehr Teilzeitverträge ausgestellt wurden.

Mit dem EU-Durchschnitt ist Deutschland somit relativ gleich auf. Griechenland kann mit 42,5 Stunden die höchste Arbeitsleistung ausweisen. Die geringste Wochenarbeitszeit gab es mit rund 38,8 Stunden in Finnland.

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Höttges sieht Deutschland jedoch vor allem im Wettbewerb mit China und den USA im Nachteil. In China ist die gesetzliche Arbeitszeit, wie hierzulande, ebenfalls auf 40 Stunden festgesetzt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können dort jedoch bis zu drei Überstunden pro Tag aufbauen. In Deutschland sind bei einem Acht-Stunden-Tag maximal zwei erlaubt.

In der Realität arbeiten die Chinesen jedoch deutlich mehr und somit meist gegen das Gesetz. Eine 72-Stunden-Woche ist nicht unüblich. In vielen chinesischen Firmen gilt „996“ – von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends und an sechs Tagen die Woche.

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Auch in den USA gilt eine gesetzlich festgeschriebene 40-Stunden-Woche. Zumindest für die Berufe, die der Bundesgesetzgebung des Fair Labor Standards Act (FLSA) unterliegen. Das sind bei Weitem nicht alle. Für andere Berufe gibt es keine Festsetzung.

Arbeitgeber sind unter der FLSA zudem nicht verpflichtet, Mittags- oder Kaffeepausen anzubieten. Bezahlter Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind im Einzelfall zu verhandeln und in vielen Berufen nicht üblich. So kommt es größtenteils zur Mehrarbeit. 50 bis 60 Wochenstunden sind keine Seltenheit. Immerhin wird unter der FLSA jede Überstunde entlohnt.

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Die Lage zeigt also: Woanders wird häufig tatsächlich mehr gearbeitet. Ob die Arbeitsmoral der Menschen in anderen Ländern jetzt aber höher liegt oder einfach ein größerer Zwang besteht, lässt sich pauschal kaum beantworten. Fakt ist jedoch, in China und den USA haben die Unternehmen mehr Möglichkeiten, die Wochenarbeitsstunden zu erhöhen. Der Arbeitsschutz ist weniger streng. Verstöße werden mancherorts kaum geahndet. In Deutschland lassen sich Überstunden dagegen nicht einfach so dauerhaft anordnen.

Zugutehalten muss man allerdings: Auch hierzulande leisten die Deutschen erheblich viele Überstunden. Hier liefen 2023 satte 1,3 Milliarden Überstunden auf – mehr als die Hälfte davon war unbezahlt. Allein diese Mehrarbeit entspricht 835.000 Vollzeitstellen. Das geht aus einer Antwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf eine schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl (Die Linke) hervor.

Wohlstandssicherung: Aufgabe der Arbeitnehmer?

Inwiefern liegt es an der Bevölkerung, das mutmaßliche Problem des Wohlstandsverlustes anzugehen – und vor allem: zieht diese Rhetorik überhaupt bei den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern?

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Interessant an der Rede von Tim Höttges ist, dass er die großen Probleme der Bundesrepublik eigentlich ganz woanders verortet: Es gibt dem DAX-Chef nach zu wenig ausländische Investitionen, zu wenige Fachkräfte, zu hohe Energiekosten, zu viel Bürokratie und eine viel zu langsam fortschreitende Digitalisierung. Das sind fünf Punkte, deren Lösungsfindung vorwiegend bei der Politik liegt und nicht bei den deutschen Beschäftigten.

Polemisch gesprochen: Was nützt eine Stunde mehr Arbeit pro Tag, wenn die Resultate an anderen Stellen volkswirtschaftlich ohnehin wieder vernichtet werden? Wäre es nicht logischer, die Visaverfahren zu digitalisieren und somit den Zuzug zu erleichtern, indem Fachkräfte sich schon in ihren Heimatländern um einen Arbeitsplatz in Deutschland bemühen könnten? Wäre es nicht logischer, die Produktivität von Unternehmen durch eine gut vernetzte digitale Infrastruktur zu erhöhen und dadurch mehr Remote-Arbeit zu fördern, die in weniger Pendel- und gegebenenfalls mehr Arbeitszeit mündet?

Ist es wirklich an den Deutschen, den durch politisches Versagen ermöglichten Schaden mit ihrer Lebenszeit auszugleichen?

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Einer Xing-Umfrage unter 2.000 Beschäftigten in Deutschland im Alter von 16 bis 65 Jahren nach zu urteilen, sehen die meisten Bundesbürger das so: Nur 42 Prozent glauben, dass Beschäftigte mehr arbeiten sollten, um den deutschen Wohlstand zu halten. 58 Prozent glauben, die Aufgabe liege nicht bei ihnen. Diese Sichtweise zieht sich durch alle Altersklassen – es ist bei weitem nicht so, dass Jüngere und Ältere da komplett anderer Meinung sind.

Unter den Babyboomern und der Generation X stimmen jeweils 37 Prozent der These zu, dass Mehrarbeit angebracht ist. 63 Prozent halten dagegen. Unter den Millennials und der Generation Z schrumpft das Verhältnis etwas, aber an der Haltung ändert sich nichts: In der ersten Alterskohorte stimmen 45 Prozent zu und 55 Prozent dagegen. In der jüngsten arbeitenden Generation stimmen 47 Prozent zu und 53 Prozent halten dagegen.

Es zeigt sich, auch wenn einige Menschen nicht bereit sind, mehr zu arbeiten, gibt es doch einen großen Anteil in der Bevölkerung, der dazu bereit ist. Doch woran hakt es?

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Zwei Lösungsvorschläge für Mehrarbeit

Ein immer wieder kontrovers besprochenes Thema dreht sich um Care-Arbeit. Vor allem die Teilzeitdebatte zeigt immer wieder auf, dass es in Deutschland schlicht strukturelle Probleme gibt, die die Menschen vom Vollzeit-Arbeitsmarkt fernhalten. 50 Prozent der Frauen arbeiten in Deutschland in Teilzeit, davon haben 27 Prozent wegen der Kinderbetreuung die Arbeitszeit reduziert. Unter den Männern liegt die Teilzeitquote bei 13 Prozent, sechs Prozent davon aufgrund der Kinderbetreuung. Diese Zahlen stammen von dem Statistischen Bundesamt.

Demgegenüber steht eine Bertelsmann-Studie zur Betreuungssituation in Deutschland: Bundesweit fehlen der zufolge rund 400.000 Kita-Plätze – trotz eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz. Die Lage sei inzwischen „untragbar“.

Das heißt im Klartext: Die Betreuungsmöglichkeiten lassen kaum andere Arbeitszeitmodelle zu. Die Menschen wieder zurück in den Vollzeit-Arbeitsmarkt zu holen, hätte gigantisches Potenzial, die deutsche Wirtschaftsleistung anzukurbeln.

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Zudem ist fraglich, ob Mehrarbeit sich überhaupt finanziell lohnen würde. Deutschland zählt zu den Ländern mit der höchsten Steuerlast. Laut dem Deutschen Steuerzahlerinstitut (DSi) wird die Einkommensbelastung eines Arbeitnehmerhaushalts mit Steuern und Abgaben im Jahr 2024 voraussichtlich bei 52,6 Prozent liegen. Damit wäre die Einkommensbelastung in diesem Jahr nach DSi-Prognosen zwar rund 0,1 Prozent niedriger als im Jahr 2023, jedoch stehen für 2025 schon erneute Steuererhöhungen fest.

Hinzukommt die sogenannte „kalte Progression“. Unter dem Begriff versteht man, dass Beschäftigte durch Lohnerhöhungen, die einzig die Teuerung ausgleichen, höhere Steuersätze zahlen müssen. Auch hier ist die Politik gefragt: Geringere Steuern könnten die Arbeitsmoral in Deutschland erhöhen.

Immerhin: Laut einer Studie des Ifo-Instituts lohnt sich das Arbeiten in Deutschland im Vergleich zu einer Beschäftigungslosigkeit noch immer. Eine Erwerbstätigkeit führt demnach immer zu einem höheren verfügbaren Einkommen im Vergleich zum Bezug von Sozialleistungen ohne Arbeit, so das Institut. Das Bürgergeld ist also kein Freifahrtschein, wie es Kritikerinnen und Kritiker häufig behaupten.

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Tim Höttges dürften diese Themen bekannt sein. Viele davon hat er in seiner Rede ebenfalls adressiert. Als Vorstand der Deutschen Telekom AG ist er hierzulande Chef von über 70.000 Angestellten, die mit diesen Lebensrealitäten konfrontiert sind. Und dennoch: Auf einer Bühne „mehr“ Arbeitsstunden „für alle“ zu fordern, ist zu einfach. Eine solche Aussage lenkt von den politischen Problemen ab und vor allem derer, die sie wirklich zu lösen haben.

Arbeitsalltag: 10 Diagramme und Grafiken, die wir fühlen

Instagramer Matt Shirley illustriert Arbeitsalltag: 10 Grafiken, die wir fühlen Quelle: Matt Shirley
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Kommentare (1)

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Juri Sinitson

Zitat aus dem Artikel:
Auf einer Bühne „mehr“ Arbeitsstunden „für alle“ zu fordern, ist zu einfach.
Zitat Ende.

Einfache Lösungen sind ein Zeichen von Populismus, meiner Meinung nach.
AfD und Trump werben auch intensiv mit einfachen Lösungen.

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