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Kolumne

Mythos Unersetzbarkeit: Warum „Ohne mich geht gar nix“ nicht mehr zeitgemäß ist

Manche Menschen sind zu wichtig, um bei der Arbeit zu fehlen? Diese Zeiten sind vorbei. Was bei der Bahn passiert ist, werden wir bald in allen Branchen sehen. Kluge Unternehmen sind vorbereitet.

3 Min.
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Fühlen sich Mitarbeiter unersetzlich, profitiert das Unternehmen. (Foto: Shutterstock / Natee Meepian)

Menschen lieben das Gefühl, wichtig zu sein. „Ohne mich bricht da alles zusammen“ – dieser Satz ist Selbsterhöhung und Rechtfertigung zugleich. Doch die Unersetzbarkeit dient vor allem der Firma: Stellen Mitarbeitende ihr Pflichtbewusstsein über ihre Gesundheit und die Belastbarkeit ihrer sozialen Beziehungen, dann sparen Unternehmen Geld. Abteilungen können ausgedünnt werden, Strukturen verschlankt.

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Wozu mehr Menschen einstellen, wenn die Unersetzlichen alles schaffen? Fühlen sich Menschen unersetzlich, dann profitieren alle Beteiligten. Alle Unbeteiligten – die Familie zum Beispiel – müssen sich selbst überlegen, wie sie die Unersetzlichen ersetzen.

Doch der Heldenmythos der Pflichterfüllung zerfasert in einer Welt, in der immer mehr Menschen krank werden, weil sie krank zur Arbeit gehen, in der Beziehungen auseinanderreißen und Freundschaften verblassen. Der einsame Held ist dann nur noch einsam. Naja, und halt krank.

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Krank ist krank, da hilft auch keine Wichtigkeit

Ein guter Gradmesser für Veränderungen in der Gesellschaft sind Entwicklungen bei der Deutschen Bahn. Etwa 338.000 Menschen arbeiten weltweit für die Deutsche Bahn, in Deutschland sind es nach Angaben des Konzerns etwa 211.000. Das macht das Unternehmen zu einem der größten Arbeitgeber in Deutschland.

Verändert sich bei der Bahn etwas, dann fällt das auf: Als die Gewerkschaft EVG vor Jahren erstritt, dass die Beschäftigten zwischen mehr Geld und mehr Freizeit wählen konnten, wählten so viele die Freizeit, dass die Bahn Arbeitsplätze schaffen konnte. Leben schlägt Geld. Heute, etwa fünf Jahre später, sehen wir, dass weniger Arbeitstage in vielen Unternehmen zum Faktor bei der Personalgewinnung werden – in Startups, in Großkonzernen, im Mittelstand, im Handwerk.

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Der Krankenstand ist das nächste Warnsignal dafür, dass Unternehmen sich auf eine Veränderung einstellen müssen. Ebenfalls bei der Bahn mussten im vergangenen Jahr Verbindungen gestrichen werden, weil Personal fehlte. Schuld war ein hoher Krankenstand in den Stellwerken, berichtet der Spiegel. Und weil die Erkrankten Spezialwissen über die Verhältnisse vor Ort hatten, konnten sie nicht ersetzt werden – es gab schlicht niemanden mehr, der die nötige Ausbildung hatte. Im ÖPNV sehen wir in diesem Winter ähnlich Effekte: Fehlen Fahrer:innen für Bus und Bahn, dann können diese Lücken irgendwann nicht mehr geschlossen werden. Und dann fallen Verbindungen aus.

Halbgött:innen in Uniform

Gib es ruhig zu. Als ich am Beginn dieses Textes von Unersetzbarkeit erzählt habe, warst du gedanklich beim Chefarzt, der am offenen Herzen operiert. Oder bei deinem eigenen Spiegelbild – wir sind ja alle gerne wichtig.

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Doch wer alles unersetzbar ist, haben wir an den (zurecht umstrittenen) Listen für die kritische Infrastruktur gesehen: echt eine Menge Leute. Mitarbeitende von Supermärkten, Pflege, Betreuung, Bildung, Abfallentsorgung. Seit ich weiß, was ein Abwasserhebewerk ist und was passiert, wenn es kaputt ist, habe ich ein ganz neues Gefühl für Unersetzbarkeit bekommen.

Gesellschaftlicher Wandel – jetzt auch in Zahlen

Doch es ist nicht an den Menschen, ihre Verfügbarkeit sicherzustellen. Diese Aufgabe gehört zur Personalplanung und muss von Führungskräften erledigt werden. Jahrelang habe ich an dieser Stelle gern die Zahl Vier ins Spiel gebracht: Vier Prozent der Erwerbstätigen sind im Schnitt krankgeschrieben.

Nur gilt diese Zahl nicht mehr. Der vorläufige durchschnittliche Krankenstand des Jahres 2022 liegt nach den Daten der Techniker Krankenkasse bei mehr als fünf Prozent. Vor Kurzem berichtete die TK, dass Erwerbstätige (sowie Beziehende von Arbeitslosengeld 1) im Jahr 2022 durchschnittlich 19 Tage krankgeschrieben waren – so viel wie noch nie. Im Jahr 2021 waren es noch 14,53 Tage.

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Diese Daten lassen im Dunklen, ob wirklich mehr Menschen zu Hause geblieben sind – oder ob sie einfach öfter und länger krank waren. Schauen wir hilfsweise in eine aktuelle Studie zum Präsentismus, also zum Phänomen, dass Kolleginnen ihre Tastaturen vollhusten und dafür gefeiert werden wollen. Darin erfahren wir: Ältere Menschen gehen eher krank zur Arbeit. Jüngere lassen es eher bleiben.

Schlechte Planung wird sofort sichtbar

Falls hier gerade ein Trend entsteht, dann wird diese Veränderung für die Personalplanung relevant sein. Bleiben Menschen bei Krankheit zu Hause, dann dienen sie damit ihrem Unternehmen mittelfristig. Sie stecken weniger Menschen an und werden schneller gesund. Es gibt Schattenseiten. Aber sie sind bei näherer Betrachtung ebenfalls Lichtblicke:

  • Schlechte Planung wird sofort sichtbar.
  • Arbeit wird vielleicht nicht gemacht.
  • Und gelingt es einem Unternehmen nicht, die Teams zu entlasten, dann wird es Mitarbeitende an die Konkurrenz verlieren.

All dies birgt die Chance auf Veränderung. Unternehmen können sich anpassen und damit zukunftsfähig werden. Oder ihre Angestellten suchen sich Arbeitgebende, bei denen der Erfolg nicht von der Selbstausbeutung der Menschen abhängt. Auch das ist eine Form der Zukunftsfähigkeit.

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