Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus haben aktuell zu Recht oberste Priorität. Was uns als Gesellschaft aber beschäftigt hat, bevor die Pandemie ausbrach, sollten wir nicht vergessen. Einige Dinge sind jetzt aktueller denn je, für andere erhalten wir gerade – wenn auch nicht ganz freiwillig – völlig neue Lösungsansätze. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gibt es hier einen kleinen Reminder für das, was noch zu tun ist, und außerdem den vielleicht besten Zeitpunkt, um Christian Lindner zu zitieren.
Der europäische Gedanke
Offene Grenzen, demokratische Tradition, Erasmus, Solidarität und Gemeinschaft: Das alles und vieles mehr umfasst der europäische Gedanke. Natürlich wünschen wir aktuell unseren europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Italien, Spanien und Frankreich nur das Beste. Trotzdem: Der Trend geht wieder zum Nationalstaat. Dass eine moderne und menschenfreundliche EU-Flüchtlingspolitik immer noch in weiter Ferne liegt, hat uns die Situation an der griechischen Grenze nachdrücklich gezeigt. Die EU hat Italien in größter Not viel zu lange viel zu sehr im Stich gelassen.
Und als Staaten dazu übergingen, die Grenzen zu schließen, wurde in Brüssel größtenteils gar nicht mehr nachgefragt oder gar Bescheid gegeben.
Gewöhnen wir uns nicht an dieses Vorgehen! Betrachten wir es als Ausnahme, denn der europäische Gedanke ist etwas Wunderbares, für das sich vor allem viele junge Menschen begeistern können. In der aktuellen Krisensituation müssen alle Europäerinnen und Europäer zusammenhalten. Nach der Krise müssen wir Europa gemeinsam modernisieren und wieder zusammenbringen!
Klimawandel
Fridays-for-Future-Demos wird es auf absehbare Zeit nicht mehr geben. Das heißt aber nicht, dass Klimawandel und Umweltschutz damit vom Tisch sind. Jetzt werden einige sagen: Die Welt kriegt eine Pause, der Flugverkehr steht still, die Autobahnen sind leer. Schön und gut, nur ist das natürlich kein Dauerzustand. Wir können aber aktuell viele interessante Trends beobachten:
Wer nicht mehr fliegen kann, muss andere Lösungen finden, sich über weite Distanzen zu verbinden. Wer nicht mehr jeden Tag einkaufen kann, muss gezielter konsumieren. Wer nicht mehr alles geliefert kriegt, erkennt, was er wirklich braucht. Daraus können wir alle lernen, besser zu unserem Planeten zu sein. Dass wir es nicht ganz freiwillig machen, dürfte im Endergebnis egal sein.
Breitband-Ausbau
Wie belastbar unsere Internetleitungen sind, werden wir in der nächsten Zeit ausgiebig testen können. Hier liegt eine Menge Arbeit vor Deutschland und wenn wir in der Digitalisierung den nächsten Schritt machen wollen, muss richtig angepackt werden. Übrigens: 5G mit Huawei oder ohne? Auch das hatten wir noch nicht abschließend besprochen.
#metoo
Harvey Weinstein sitzt hinter Gittern. Kevin Spacey wird wieder zum Aushängeschild der Bits & Pretzels. Ernsthaft? Mit dieser Debatte sind wir noch lange nicht fertig, das zeigen auch die Erfahrungsberichte mit Belästigung und Diskriminierung, die uns t3n-Leserinnen in hoher Zahl zugeschickt haben. Wer jetzt solidarisch und respektvoll miteinander umgeht, lernt vielleicht aus der aktuellen Situation, wie er das auch dann tun kann, wenn es wieder ins Büro geht. Wie man Distanz wahrt, sollte spätestens jetzt jeder kapiert haben.
Datenschutz für alle
Erinnert sich noch jemand an Andreas Scheuer? Genau, der mit der Pkw-Maut. Wichtige Handydaten von öffentlichem Interesse waren, als es drauf ankam, leider plötzlich gelöscht. Bei Ursula von der Leyen war es genauso. Beide sind übrigens immer noch in ihren Ämtern. Privatsphäre gerne, aber dann bitte für alle! Aktuell müssen wir diskutieren, inwieweit wir auf Teile unserer Rechte verzichten, um das Virus effektiv zu einzudämmen. Hier gibt es sicher gute Argumente, für einen begrenzten Zeitraum Grundrechte einzuschränken – aber eben auch wirklich nur für begrenzte Zeit! Wir schenken jetzt der Politik unser Vertrauen, dass diese einschneidenden Maßnahmen auch wieder zurückgenommen werden.
Schwacher oder starker Staat?
Tatsächlich erleben wir gerade, wie fundamental die Politik unseren Alltag bestimmen kann, wenn sie will. Ein Staat, der sich aus den Märkten immer weiter zurückgezogen hat, während er seine Kompetenzen in den Bereichen Sicherheit und Überwachung Stück für Stück weiter ausgedehnt hat, greift jetzt richtig durch. Vergessen wir nicht, dass das nur die Ausnahme und nicht die Regel sein sollte.
Gleichzeitig bietet das Virus hier aber auch eine Chance, über neue staatliche Möglichkeiten nachzudenken. Erinnert sich noch jemand an den Aufschrei, als Kevin Kühnert das Gedankenspiel betrieb, BMW zu verstaatlichen? Plötzlich werden Verstaatlichungen wieder als adäquates Mittel gehandelt, um feindliche Übernahmen abzuwehren – siehe Lufthansa. Auch die Schwarze Null ist erstmal vom Tisch. Kein Zweifel, da kommen spannende Zeiten auf uns zu!
Digitale Meinungsfreiheit
Vor Corona hatten wir noch lange nicht ausdiskutiert, was im Internet gesagt werden darf und was nicht, wie wir Fake News von echten Neuigkeiten unterscheiden können und inwiefern es sinnvoll ist, die Verwendung von Klarnamen verpflichtend zu machen. Was wir aber aktuell beobachten können, ist das (zumindest gefühlt) der Ton im Netz solidarischer und menschenfreundlicher wird. Es wird konstruktiv diskutiert, es werden blitzschnell Lösungen gefunden und Hilfsprojekte ins Leben gerufen. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass es auch nach der Pandemie so bleibt!
Neue Arbeitszeitmodelle
Nein, damit ist nicht Homeoffice gemeint, weil das Büro gerade Sperrgebiet ist. Wir müssen uns darüber unterhalten, wie und wie lange wir in Zukunft arbeiten wollen. Der Arbeitsmarkt erlebt aktuell einen radikalen Bruch. Wie geht es danach weiter? Können wir nach vorne denken oder müssen wir die Scherben zusammenkehren, nur um die Relikte eines längst überholten Modells zusammenzukitten?
Vier-Tage-Woche, kürzere Arbeitszeiten bei gleicher oder höherer Produktivität, flexibler Wechsel zwischen Teilzeit und Vollzeit: Interessante und moderne Ideen gibt es jede Menge!
Die Corona-Pandemie zeigt uns aber auch, wie viele Berufsgruppen von dieser Diskussion nicht profitieren werden, wenn wir sie weiter führen wie bisher. Kassierer und Ärztinnen können nicht in vier Tagen das gleiche schaffen wie in fünf. Sie können auch nicht dank einer Sechs-Stunden-Schicht produktiver werden, weil sie dann weniger Zeit auf Facebook oder Instagram verbringen. Solche Phasen gibt es in ihren Jobs schließlich gar nicht. Wir müssen alle mitnehmen, nur so behalten wir die Solidarität bei, die wir uns aktuell Stück für Stück erarbeiten.
Liberalismus vs. Autokratie
Regierungsparteien profitieren häufig von Krisen und Kriegen. So wurde zum Beispiel jeder amerikanischer Präsident wiedergewählt, in dessen Amtszeit ein Krieg fiel. Die Trumps und Orbans dieser Welt werden durch Sars-CoV-2 also vermutlich nicht abgewählt werden. Wir werden uns auch weiterhin mit dem Erstarken von populistischen Autokraten beschäftigen müssen. Egal, ob mit Covid-19 oder ohne.
Auf Wiedervorlage
Bei all der völlig zurecht beschworenen und gelobten neu entstehenden Solidarität vergessen wir nicht, wen wir ausklammern, während ein neues Wir-Gefühl entsteht. Vergessen wir nicht, dass EU-Staaten Schutzkleidung und Desinfektionsmittel zurückhielten, während sie in Italien dringend gebraucht wurden. Vergessen wir nicht, dass Griechenland an seiner Grenze das Asylrecht außer Kraft setzt, während alle anderen EU-Mitglieder freundlich nicken. Vergessen wir nicht die Menschen auf Lesbos. Vergessen wir nicht die Menschen in Idlib. Vergessen wir nicht, worüber wir noch reden wollten, bevor uns die Pandemie dazwischenkam. Denn wir erkennen gerade ganz neue Lösungsansätze, die wir vorher nie für möglich gehalten hätten! Wie viele Dinge galten früher als zu schwer umzusetzen, die jetzt ganz schnell erledigt sind?
Es ist nur menschlich und verständlich, sich zunächst um die Probleme vor der eigenen Haustür zu kümmern. Aber eins lässt sich festhalten, ohne blauäugig zu sein: Wir werden die Coronakrise überstehen und damit eine von vielen Herausforderungen meistern.
Um es mit dem jungen Christian Lindner zu sagen: „Probleme sind nur dornige Chancen.“ Und wann hatten wir zuletzt so viele Probleme?