E-Mobilität: Tier frisst Coup – reicht das zum Überleben?
Wenn man 350 Meter Straße in Berlin Kreuzberg zu Fuß geht, kommt man mittlerweile an 11 (Stichprobe) mietbaren Zweirädern und einem Mietauto vorbei. Fahrräder von Deezer, Mobike und Jump und Roller von Lime, Voi und Tier stehen da auf dem Bürgersteig rum. Und ein Mietauto von Miles auf der Straße.
Der Markt ist zu klein für alle
Die Mietmobilität kommt in Berlin gut an. Aber es ist auch klar, dass der Markt nicht groß genug für alle ist. Und wenn die E-Roller doch erst im Sommer 2019 auf die Straße gekommen sind – der Überlebenskampf ist schon in vollem Gange. Die Frage der Mobility-Evolution im Großstadt-Dschungel ist dabei: Geht’s um die Größe? Oder darum, in der Nische am besten angepasst zu sein?
Der deutsche Anbieter Circ wurde Ende Januar von Bird, einem Raubvogel aus den USA, geschluckt. E-Moped-Anbieter Coup hatte schon im November aufgegeben. Tier, gestärkt mit einem frischen 100-Millionen-US-Dollar Investment, macht sich jetzt über die Reste her – und hat sich 5.000 elektrische Mopeds und die Ladeinfrastruktur von Coup einverleibt. Ab Mai will Tier die neuen Roller wieder auf die Straße bringen – unter dem eigenen Markennamen.
Aber können lokale Größen wie Tier langfristig gegen die Fressfeinde aus den USA bestehen? Oder teilen die großen amerikanischen Unternehmen auch das europäische Revier am Ende unter sich auf?
Plattform ist das Zauberwort
Wenn man Augustin Friedel, einen Mobilitätsexperten und Stratege bei Volkswagen, anruft, ist der gerade zu Fuß auf dem Heimweg. Und für Friedel sieht der Tier-Coup nach einem guten Deal aus: „In Berlin kamen die Coup-Roller gut an. Für Tier macht es Sinn, sich zu diversifizieren“, erzählt er. Durch sogenannte multimodale Flotten (E-Roller und E-Moped), so Friedel, kann sich die Aktivität der Nutzer auf der Plattform steigern. Und Plattform ist dabei natürlich das Zauberwort – niemand will mehr nur Vermieter sein.
Wer auf einem Markt aber die Plattform wird, so Friedel, hängt auch von dem finanziellen Hintergrund des Unternehmens ab. Marken wie Bird und Jump (von Uber) können schneller mehr Geld auftreiben als deutsche Anbieter.
„Uber dachte, sie übernehmen die Welt.“ – Augustin Friedel
Trotzdem sieht Friedel auch langfristig Überlebenschancen für Berliner Unternehmen wie Tier: „Uber dachte auch mal, sie übernehmen mit ihrem einheitlichen Modell die Welt und gehen überall hin: China, Russland, Süd-Ost Asien. Aber oft hat die notwendige Anpassbarkeit an lokale Gegebenheiten gefehlt. Daher kann ich mir gut vorstellen, dass europäische Startups sich auch langfristig in ihren Heimatregionen durchsetzen können“, so Friedel.
Auch Kersten Heineke, Mobilitätsexperte und Partner bei McKinsey, sieht Tier mit den neuen Mopeds auf einem guten Kurs: „Es ist eine gute Idee, bei einer Plattform, die gut funktioniert hat, noch weitere Angebote anzubauen“, sagt er am Telefon. „US-Player wie Uber haben unter ihrem Dach ebenfalls Verschiedenes gebündelt – von normalen Fahrten über Pool-Fahrten bis hin zu Essensauslieferungen. Es ergibt also Sinn, auch ein Angebot für längere Strecken zu machen.“
Anpassen, um zu überleben
In Europa, so Heineke, sei die lokale Verbindung ein Schlüssel zum Erfolg: „Wenn man ein gutes Verhältnis zu den Städten hat, verbessert das die eigenen Chancen.“ In München, sagt Heineke, kooperiere Tier auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. „Aus politischen Gründen haben es deutsche Firmen hier einfacher als amerikanische Plattformen“, so Heineke. „Natürlich ist es immer gut, bei solchen Geschäften viel Geld zu haben. Aber für Micromobility ist im Vergleich zu anderen Mobilitätsangeboten weniger Kapital erforderlich. Die Anbieter müssen Kunden und Fahrer nicht erst aufwendig anwerben“, gibt er zu bedenken.
Auch für Alexander Jung, ein Projektleiter für neue Mobilität beim Think Tank Agora Verkehrswende, ist Diversifizierung ein größerer Trend der Mikromobilität: „Auch Voi und Bird arbeiten an neuen Angeboten, sowas wie E-Bikes und Lastenrädern“, erklärt Jung in einem Telefonat.
„Dass der Markt sich dabei konsolidieren wird, ist unbestritten“, findet Experte Jung. Tier, so Jung, sei da ganz gut aufgestellt. Aber es könne für Tier langfristig schwerer werden, außerhalb Europas Geld zu bekommen. Für amerikanische Startups sei das komfortabler. „Und wir dürfen nicht vergessen, dass das nicht nur Mobilitäts- sondern auch Logistikunternehmen sind: Personalkosten, das Einsammeln und Reparieren, Lagerhallen – da steckt viel Personal dahinter. Und im Winter werden die Flotten reduziert. Bis die Systeme im Hinblick auf Profitabilität optimiert sind, spielt die Finanzierung durch Wagniskapital daher noch eine große Rolle“, so Jung.
Wer am Ende überlebt, bleibt abzuwarten. Und auch, wie lange die aktuell dominierende Spezies Auto in den Städten noch durchhält.