Der Fachkräftemangel gilt als eines der drängendsten Probleme für Unternehmen und zieht sich inzwischen durch alle Branchen und Berufe: Angefangen bei Pflegefachkräften und Handwerkern bis hin zu HR- und IT-Expertinnen und -Experten. Immer mehr Menschen gehen in Rente und zu wenige junge Menschen rücken nach, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Viele Berufstätige für digitale Jobs würden aber auch nicht schnell genug ausgebildet. Tatsächlich hat sich die Fachkräftelücke im vergangenen Jahr sogar mehr als verdoppelt, so das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Die Zahl der offenen Stellen, für die es rechnerisch bundesweit keine qualifizierten Arbeitskräfte gab, stieg 2021 von rund 213.000 im Januar auf satte 465.000 im Dezember. Vor allem Tech-Unternehmen reagieren unterschiedlich darauf.
Fachkräftemangel: Was IT-Unternehmen tun
Aktuelle Beispiele liefern die Fintechs Klarna und Bitpanda sowie der Software-Konzern SAP. Der Zahlungsanbieter Klarna will die fachlichen Einstellungshürden neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beispielsweise deutlich senken. Man wolle die Schwelle für Bewerbende „ohne vorherige Berufserfahrung oder einem akademischen Abschluss“ so gering wie möglich halten, so Isabelle Backenstoss, Leiterin des Recruiting-Programms. Zudem sollen Kandidatinnen und Kandidaten auf „Grundlage ihrer Mentalität und ihrer Einsatzbereitschaft“ beurteilt werden und nicht „nur anhand ihres Lebenslaufs“. Klarna hat das Fachkräfte-Programm namens „Service Accelerators“ ins Leben gerufen, um Menschen einen Berufseinstieg als IT-Servicekraft zu ermöglichen und sie dann intern für höher spezialisierte Jobs auszubilden. Es solle entlang eines strukturierten Karriereplans gearbeitet werden.
„Den Arbeitsplatz zu den Menschen bringen, nicht andersrum!“
Die Kryptobörse Bitpanda verfolgt den Ansatz, fehlendes Personal mit mitarbeiterfreundlichen Arbeitsbedingungen anzulocken. Das Unternehmen hat ein neues Benefits-Paket geschnürt, um für Fachkräfte attraktiver zu werden – dazu zählen ein unbegrenzter Urlaubsanspruch zusätzlich zu einem zweiwöchigen Betriebsurlaub für alle, außerdem 20 Wochen bezahlte Elternzeit für junge Mütter und Väter und die Möglichkeit, an 60 Arbeitstagen ortsunabhängig zu arbeiten, egal von wo aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das möchten. Das Benefit-Paket solle motivierend wirken, man möchte der Ort sein, der „den Mitarbeitenden alles bietet, was sie brauchen, um professionell sowie persönlich zu wachsen“, erklärt Mitgründer und CEO Eric Demuth. Ab April 2022 greifen die Regeln für alle 1.000 bestehenden Arbeitskräfte und künftige Mitarbeitende.
Ein weiteres prägnantes Beispiel dafür, wie sich Unternehmen verstärkt auf die Bedürfnisse der Team-Mitglieder konzentrieren, zeigt auch das Digitalunternehmen SAP. Während die meisten Konzerne für ein stärkeres Engagement der Politik hinsichtlich sinkender Einwanderungshürden lobbyieren, hat der Software-Konzern aus Walldorf in Baden-Württemberg längst verstanden, dass der IT-Arbeitsmarkt global ist. „Menschen leben da, wo ihre Familien sind, ihr soziales Netzwerk, und dort wollen sie in der Regel auch arbeiten“, erklärt SAP-Personalchef Cawa Younosi. Bei dem Software-Konzern würden die HR-Verantwortlichen deshalb mit „einem weltweiten Ansatz arbeiten und den Arbeitsplatz zu den Menschen bringen, nicht andersrum“. Neben Weiterbildungsmöglichkeiten und Benefits wird auch New Work fester zentraler Bestandteil der Fachkräftesicherung.
IT-Szene als Vorbild anderer Branchen
Die IT-Wirtschaft kämpft seit vielen Jahren mit dem Fachkräftemangel, wie jährliche Statistiken des Bitkom zeigen. Während sich 2010 die Fachkräftelücke in Deutschland noch auf 28.000 fehlende Mitarbeitende belief, stieg der Wert bis 2019 auf 124.000 dringend benötigte Beschäftigte. Ein Jahr später sank der Wert erstmals und stieg 2021 erneut auf 96.000 freie Stellen an. Auch in anderen Berufen hat sich dieser Trend abgezeichnet, jedoch ohne, dass Arbeitgebende entsprechend reagierten. Inzwischen müssen jedoch auch diese Unternehmen nachziehen und neben fairen Gehältern für Weiterbildungen und Benefits sorgen, damit sich Menschen weiter für sie interessieren. Die Maßnahmen der Tech-Firmen könnten insofern schon bald Schule in anderen Branchen machen. Pflegekräfte mit unbegrenztem Urlaubsanspruch, Handwerker mit bezahlter Elternzeit oder HR-Manager, die von überall aus in der Welt arbeiten?
Angesichts der demografischen Verwerfungen am Arbeitsmarkt, ist das vielleicht gar nicht so abwegig. Auf einige Menschen dürfte dieser Gedanke dennoch seltsam wirken: Lange wehte vielerorts nämlich ein ganz anderer Wind. Jahrelang waren die Kräfteverhältnisse in der Arbeitswelt klar geregelt: starke Arbeitgebende, schwache Mitarbeitende. Und wer tatsächlich einen Job hatte, ackerte fleißig, um nicht rauszufliegen und womöglich in die Untiefen von Hartz-IV abzurutschen. Von ein paar wenigen Spezialisten abgesehen, die hinsichtlich ihrer Fähigkeiten schwer zu ersetzen und deshalb immer schon nachgefragt waren, mussten Generalisten meist nehmen, was sie kriegen konnten – jemand anderes fand sich sonst immer. Heute ist das anders: Die Zeit titelte zuletzt sogar mit der Zeile „Die neue Macht der Angestellten“ und spricht von veränderten Regeln am Arbeitsmarkt. Es stimmt: Die Zeitenwende ist gekommen!
Also 60 Tage mobiles Arbeiten (vermutlich im Jahr, alles andere macht wenig Sinn), ist alles andere als attraktiv – vor allem in der IT-Branche, welche – sofern es nicht um Hardwarebetreuung geht – für Remotearbeit prädestiniert ist. Wenn ich von den 52 Wochen im Jahr mal 6 Wochen Urlaub abziehe, bleiben da 1,3 Homeofficetage pro Woche übrig.
Und unbegrenzter Urlaub – hört sich nett an, wird aber mit Sicherheit mit dem Gehalt verrechnet, ist also eher als zweites Standbein für Freelancer geeignet.
Und die Abkehr von Voraussetzungen wie Studium / Ausbildung ist im IT-Bereich mehr als überfällig (ich bin absoluter Quereinsteiger mit Realschulabschluss, habe aber mehr Ahnung als die meisten meiner Kollegen)
Was sind „Bewerbende“? So bewerbe ich mich bestimmt nicht.