Selbsttest: Ich habe mich von Fremden im Homeoffice beobachten lassen – das ist passiert
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe es, von daheim aus im Stillen zu arbeiten. In meinen 15 Berufsjahren habe ich so ziemlich alle gängigen Arbeitsformen ausprobiert. Allein im kleinen Büro, zu zweit am Küchentisch, zu sechst im Abteilungsbüro, mit 20 bis 30 Personen im offenen Coworking-Space und zu guter Letzt alleine im Homeoffice. Ich sage „zu guter Letzt“, weil ich darin mit Freude geblieben bin. Bin ich introvertiert oder gar ein Misanthrop? Nein, ganz und gar nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich mag es, unter Menschen zu sein. Und dennoch: Gerade als Redakteur brauche ich beim Schreiben Ruhe, denn ich lasse mich sehr schnell ablenken. Umgebungsgeräusche sind mein Produktivitätskiller Nummer eins. Was für den berühmten Ernest Hemingway der Alkohol war, ist für mich ein quatschender Kollege. Macht schon Spaß, aber bitte nicht während der Arbeit. Lieber danach und dann gerne in vollen Zügen!
Nichtsdestotrotz gibt es auch Aufgaben, die weniger Konzentration, sondern vor allem Disziplin fordern. Das E-Mail-Postfach zu leeren, Reportings zu pflegen, kurzum: Orga. Bei all diesen Aufgaben neige ich dazu, mal eben auf Instagram zu verschwinden und nicht mehr aufzutauchen, beziehungsweise erst dann, wenn es sprichwörtlich brennt. „Mist! Jetzt muss ich aber mal ran.“ Produktivitätsexperten meinen, genau diese Aufgaben sollten Menschen wie ich eigentlich gleich zu Beginn des Tages erledigen: „Eat the Frog“ nennen sie das. Die Kröte schlucken. Der Ansatz: Je später der Abend und je länger der Tag bereits gewesen ist, desto schwieriger wird es für Arbeitende, den ungeliebten Task noch mit Engagement anzupacken. Deshalb lieber gleich morgens. Nette Idee zwar, funktioniert bei mir aber nicht. Was ich brauche, ist Druck. Oder Kollegen, die vorwurfsvoll gucken, wenn ich prokrastiniere. Das Problem: Die gibt es in meinem Homeoffice nicht.
Co-Worker im Homeoffice gesucht
Wie mir geht es vielen anderen Menschen, die entweder gewollt oder – in Zeiten von Corona – ungewollt in den heimischen vier Wänden arbeiten. Vieles läuft darin top, einiges eher semi. Wie cool wäre es, wenn für gewisse Aufgaben am Tag ein Co-Worker am Tisch säße? Die gute Nachricht: US-Investor Marc Andreesens legendäres „Software eats the world“-Zitat behält einmal mehr Recht. Denn im Netz gibt es keinen Lebensbereich, der nicht digitalisiert ist. Die Lösung für mein Problem hat ein US-Amerikaner namens Taylor Jacobson unlängst programmiert. Focusmate heißt seine Idee – dahinter steckt ein Dienst, der Menschen für 50 Minuten miteinander verbindet, damit sie sich via Videocall bei ihren täglichen Aufgaben über die Schulter schauen und kontrollieren können, ob sie auch wirklich arbeiten, oder ob sie zwischenzeitlich ins Bad verschwinden, um es zu putzen.
Das Versprechen macht mich natürlich neugierig. Kann das klappen? In meinem Kopf spielen sich zunächst Szenen wie bei Chatroulette ab – manche mögen es noch kennen: fremde Menschen, die zufällig verdrahtet werden, um völlig sinnfreien Quatsch vor ihrer Webcam anzustellen. Da gab es Gruppen, die sich in skurrilen Kostümen betranken und in die Kamera grölten. Singles, die jemanden zum Flirten suchten. Und natürlich Perverse, die ihren Dick ins Bild hielten. Aber nein, das alles hat sich im Selbsttest zum Glück nicht bewahrheitet. Dazu gleich mehr. First things first: Um einen Konzentrationskumpel – wie man „Focusmate“ übersetzen könnte – zu finden, braucht es zunächst eine Anmeldung: E-Mail-Adresse, Passwort, Authentifizierungslink klicken, einen Termin in den Kalender eintragen und auf einen Co-Worker warten. Meine erste Begegnung heißt Amar und kommt aus Kalkutta. Ich bin aufgeregt, er cool wie ein Kneipbecken.
Amar aus Indien
Es gibt Regeln auf der Plattform, die Amar bereits verinnerlicht hat. 89 Sessions hat er schon hinter sich. Das steht neben seinem Namen. Der dünne Junge mit der dicken Brille spricht kurz und bündig. Er stellt sich nicht einmal vor, sondern sagt direkt, was er zu tun hat. In den Community-Guidelines steht, dass der anfängliche Kontakt zwar nett sein soll, aber nicht länger als eine Minute dauern dürfe. Ich locke ihm ein Lächeln ab als ich erzähle, dass ich Journalist bin, einen Artikel über Focusmate schreibe und er mein erster Kontakt sei. Ob das für die 50 Minuten meine Aufgabe ist, fragt er. Nein, entgegne ich. Ich will meine aufgelaufenen E-Mails abarbeiten. Seit drei Tagen hab ich das Postfach nicht geleert. Amar hingegen ist Student, irgendwas mit Mathe, er schreibt bald sein Examen und hat etwas Probleme, bei der Sache zu bleiben. Focusmate helfe ihn, am Schreibtisch zu sitzen. Er wirkt, als säße er da schon sehr sehr lange. Armer Amar, denke ich.
„Er wirkt, als säße er da schon sehr, sehr lange. Armer Amar!“
Was sich zunächst etwas komisch anfühlt, wird schnell ziemlich unaufgeregt. Amar arbeitet seine Aufgaben ab, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Chatverlauf lässt er mich wissen, welche Fortschritte er macht. „1. Done with arithmetic questions, moving on to algebra part 1“, schreibt er. „2. Done with algebra review, going on to exercise part 1“, heißt es weiter. Zum Schluss erklärt er, dass der erste Part ziemlich einfach und auf Highschool-Niveau gewesen sei. Er tauche jetzt in den zweiten Part ein. Ich denke mir: Flinker Kerl! Wofür er 50 Minuten braucht, hätte ich wohl den halben Tag benötigt. Ich hatte zwar Mathe-Leistungskurs, war aber nicht unbedingt die Speerspitze der Truppe. Als er mich fragt, wie es bei mir laufe, ist es mir fast etwas peinlich zu sagen, dass ich meine Inbox fast leer habe, ich jedoch überwiegend nur PR-Material gesichtet und es nicht beantwortet habe. Sein Blick wirkt fragend. Ich sage: „This is how it goes.“
Bevor ich einen weiteren Konzentrationskumpel treffe, entscheide ich mich, erst einmal Mittag zu machen. In der Regel ist mein Fokus danach meist katastrophal unscharf. Es gibt Nudeln von gestern Abend. Anschließend ein Powernap, der das schlimmste anzunehmende Szenario – die totale Prokrastination – in der Regel verhindert. Um auf Nummer sicher zu gehen, gibt es noch einen schwarzen Kaffee und weiße Schogetten, die ich an dieser Stelle unbedingt als „unbezahlte Partnerschaft“ ausweisen möchte – ich hätte auch Milka oder Ritter Sport gegessen. Aber das nur am Rande. Auf meinem Zettel steht, dass ich jetzt anfangen will, diesen Artikel zu schreiben. Nach dem Mittag zu schreiben, fällt mir echt schwer. Ich schreibe den Großteil meist vormittags und dann erst wieder abends. Insofern ergibt sich jetzt das perfekte Szenario, um zu testen, ob mich Focusmate bei der Stange hält. Und ob es einfach nur einen Kollegen braucht, der mich zum Arbeiten zwingt.
Megan aus Kanada
Mein nächster Co-Worker heißt Megan. Sie lebt und arbeitet in Montreal und ist – wie ich – vergleichsweise neu auf der Plattform. Erst drei Wochen dabei, scheint sie jedoch Gefallen gefunden zu haben. Sie hat bereits zehn Sitzungen durchgeführt. Ihrem Profil kann ich ein paar Infos entnehmen: Sie arbeitet gerade an einem Review für ein Musikalbum. Das Ziel der aktuellen Session sei es, einen groben Entwurf fertigzustellen. Megan ist also eine Kreative. Von ihrem Stil her könnte sie auch in Berlin-Friedrichshain leben. Sie wirkt androgyn, der Tilda-Swinton-Typ und ist mir direkt unsympathisch. Aber wir sind ja nicht hier, um Freunde zu finden, sondern um zu arbeiten. Insofern steht der Termin. Einem Screenshot stimmt sie leider nicht zu und macht etwas von oben herab darauf aufmerksam, dass das jawohl mega gegen die Guidelines verstöße. Mir wird klar: Auf Focusmate herrscht ein sehr kompromissloses Klima – also eigentlich wie überall im Netz.
„Megan raunt mich an: ‚Andreas, are you on Instagram?‘“
Mein Termin mit Megan läuft dennoch ganz gut. Sie ist fokussiert und tippt auf ihren Computer ein. Ich tue es ihr gleich. Gelegentlich wandern unsere prüfenden Blicke auf den jeweils anderen Co-Worker. Anders als Amar hat sie vergessen, ihr Mikro zu muten. Somit höre ich ihre rasanten Anschläge auf der Tastatur, was dazu führt, dass auch meine Motivation, schneller zu schreiben, steigt. Sie gibt den Takt vor, ich halte mit. Es ist, als wäre sie mein Pacemaker, diese Läufer, die neben Marathon-Athleten herlaufen und dafür sorgen, dass sie ihre Geschwindigkeit halten. Als ich mich zwischendurch mal zurücklehne und mein iPhone in die Hand nehme, raunt Megan mich an: „Andreas, are you on Instagram?“ Ich gebe zu, dass ich kurz abgedriftet bin, ihre Miene wird strenger. Auf keinen Fall würde jemand Ärger mit ihr haben wollen. Wenn Blicke töten könnten und so. Am Ende hab ich 4.500 Zeichen geschrieben. Ein sehr gutes Ergebnis.
Wer die Basis-Version von Focusmate nutzt, darf pro Woche maximal drei Co-Worker zu sich einladen. Während Amar und Megan eher zufällig zustande kamen, schau ich bei Nummer drei genauer hin. Ich würde gerne mit jemandem aus Europa zusammenarbeiten, um zu schauen, ob es Unterschiede im Kulturkreis gibt und die Leute hier gesprächiger sind, auch hätte ich gerne jemanden, der oder die Covid-19-bedingt im Homeoffice arbeitet. Ich klicke mich also durch den Kalender und gucke mir die Profile der potenziellen Konzentrationskumpels gut an: Da wäre John aus London, mit 2.386 Sessions ein Focusmate-Pro und dabei seit 2018 – also kein Corona-Heimarbeiter. Und Celeste aus Kapstadt, die Schneiderin ist und witziger Weise vor der Webcam ihre Garderobe nähen will – leider also keine Europäerin. Meine Wahl fällt auf Niels aus Berlin, dabei seit Mai 2020, 61 Sessions und – wie er preisgibt – seit dem Lockdown im Homeoffice. Volltreffer!
Niels aus Deutschland
Niels freut sich über unseren Erstkontakt, er grinst breit über beide Ohren und ist sehr sympathisch. Er selbst ist wissenschaftlicher Arbeiter an einer Universität und wurde erst ins Homeoffice geschickt, später war es ihm freigestellt zurückzukehren. Zu Hause, so sagt er, fühle er sich derzeit besser aufgehoben. Trotzdem schweife er dort oft ab. Niels scheint einiges auf dem Zettel zu haben. Während meines Intros schaut er regelmäßig nach oben in die rechte Ecke seines Bildschirms, ich vermute auf die Uhr. Ich will den ersten Kontakt nicht unnötig herauszögern und entlasse uns in den Tunnel, wie ich den Modus nenne, in dem ich konzentriert arbeiten will. Wir sind schon fünf Minuten über der Zeit. Er bleibt zwar nett – Megan hätte mich sicher schon angezählt –, aber ich merke auch bei ihm, er ist nicht zum Smalltalk gekommen. Focusmate ist definitiv eine Community von Menschen, die das Tool äußert ernst nehmen. Ich passe mich allmählich also dem Ganzen an.
„Ich möchte mir vor Niels nicht die Blöße geben.“
Die Session mit Niels fällt mir sehr schwer, denn nicht nur, dass es schon später Nachmittag ist. Auch meine Freundin wirbelt um mich herum, räumt auf, ruft mir Dinge zu. In diesen Momenten klappe ich das Macbook eigentlich immer zu und gehe eine Runde laufen oder helfe irgendwas im Haushalt. Meist ersteres. Das geht jetzt allerdings nicht. Denn natürlich möchte ich mir vor Niels nicht die Blöße geben und abbrechen. Arbeite ich jetzt besonders produktiv? Nein, auf gar keinen Fall. Aber immerhin diszipliniert, denn ich folge nicht meinem eigentlichen Impuls, zu gehen, sondern tippe weiter einen Satz nach dem anderen in die Tastatur, lösche ihn wieder, schreibe von vorne. Think. Write. Delete. Repeat. Disziplin, so pflegt es meine Großmutter immer zu sagen, ist die Einsicht, sich selbst Zwänge aufzuerlegen. Wie wahr, Oma. Wie wahr. Am Ende der Session hab ich immerhin einen Absatz geschafft. Das ist einer mehr als ich wohl ohne meinem Focusmate Niels geschafft hätte. „Thx, Bro!“
Für meine drei Co-Worker und einige andere Bekanntschaften, mit denen ich ein paar 50-minütige Sessions über die letzten Wochen zusammengearbeitet habe und hier nicht erwähnt wurden, ist der Focusmate-Bildschirm ein Work-Screen wie jeder andere. Das wurde mir während meines Testlaufs recht schnell bewusst. Jeder ist hier „to get shit done“ wie auch in vielen Profilbeschreibungen zu lesen ist. Ich habe schnell bemerkt, wer die Guidelines sehr ernst nimmt und wer – zumindest aus Höflichkeit mir als Newbie gegenüber – es mal nicht so streng nahm. Grundsätzlich ist die Sache auf Focusmate aber klar: Teilnehmende begrüßen sich, sagen sich direkt, was sie schaffen wollen, tauchen ab in den Arbeitsmodus und wenn die Uhr abgelaufen ist, gibt es noch ein kurzes Update über den Stand der To-do-Liste und es wird sich wieder verabschiedet. Nicht mehr und nicht weniger: Wer sich zu viel mit dem Kleinen abgibt, wird unfähig für das Große, so die gelebte Maxime.
Nicht lang schnacken, arbeiten!
Es ist erfrischend, andere Menschen im Homeoffice zu begrüßen, wenn das Bedürfnis danach aufkommt. Und ich kann nicht behaupten, dass mich der Blick über die Schulter meiner Co-Worker genervt, aus der Ruhe gebracht oder gar blockiert hätte. Im Gegenteil halfen sie mir, noch mehr aus meinem Arbeitstag herauszuholen. Und ich würde lügen, würde ich behaupten, dass der Impuls, die neue Staffel „Stranger Things“ auf Netflix zu streamen, nicht aufgekommen wäre zwischendurch. Wer solchen Impulsen nur schwer widerstehen kann und vielleicht bereit wäre, sich selbst und die Konzentrationskumpels zu hintergehen, könnte theoretisch sogar seinen Bildschirm teilen und sichtbar machen, was darauf stattfindet. So geht man auf Nummer sicher. Natürlich ist das keine Option für Buchhalterinnen, die Geschäftsberichte anfertigen, oder Programmierer, die im Quellcode des nächsten großen Dings tippen. Denn auch wenn der Eindruck eines Kollegen erweckt wird, es bleiben Fremde.
Schlussendlich bleibt natürlich die Frage, ob Focusmate auch dich produktiver macht. Ich glaube ja, sofern dein Wille, die sprichwörtliche Scheiße fertigzubekommen, grundsätzlich da ist. Denn seien wir ehrlich: Kein Tool und auch kein Kollege der Welt schaffen es, einen für die Arbeit an einer Sache zu begeistern, die eigentlich bekloppt ist. Und: Notorisch Prokrastinierende würden das Tool irgendwann sowieso löschen und zurück in alte Muster verfallen. Für mich war die Erfahrung jedoch positiv, auch wenn ich meinen Account nach dem Testlauf wieder aufgegeben habe. Nicht etwa, weil Focusmate nichts bringt, sondern weil mir bewusst wurde, dass ich ja auch einfach meine echten Kollegen zum Webcam-Meetup anpingen kann. Das würde nicht nur auf die Erledigung meiner To-dos einzahlen, sondern auch auf die Beziehung zu meinen Mitmenschen bei t3n. Andererseits pflegte schon der spanische Philosoph Miguel de Unamuno stets zu sagen: Der Müßiggang sei notwendig zur Entwicklung höherer Kultur. Vielleicht legen wir uns also doch lieber wieder alle hin.