Normal ist das nicht. Normal ist: Menschen machen Überstunden, weil sie so wichtig sind. Und sie sind stolz darauf. Schließlich sind Überstunden, so sagte mir damals eine Ärztin aus meinem Bekanntenkreis, ein Privileg. Ich kaute damals sehr lange auf dieser Aussage herum und akzeptierte sie schließlich als wahr.
Doch die Wahrheit ist: Wer Überstunden macht, der hat das, was er tun sollte, schlicht nicht in der Zeit geschafft, die einst vereinbart worden war. Temporär ist das okay. Dauerhaft ist das ein Zeichen dafür, dass Dinge schieflaufen.
Schauen wir uns also die Legenden an, die Menschen sich selbst erzählen, wenn sie Überstunden machen:
1. Der Kunde erwartet diesen Einsatz.
Keine Frage, der Kunde nimmt sich selbst sehr wichtig. Aber ist er dann ein guter Kunde, mit dem ihr gern und dauerhaft zusammenarbeitet? Natürlich ist es für Unternehmen verführerisch, Projekte, die zu spät gestartet werden oder deren Timing nicht funktioniert, an andere Firmen auszulagern. Und natürlich steckt darin gutes Geld – „der Kunde“ zahlt hier schließlich drauf, damit die miesen Arbeitsbedingungen nicht in seiner eigenen Community landen. Da Überstunden aber der Leistung schaden, schaden sich hiermit am Ende alle Beteiligten.
2. Ich muss Überstunden machen, um mich im Rennen um die Beförderung durchzusetzen.
Das mag in einigen Unternehmen sogar stimmen. Fragen solltet ihr euch dann aber, ob ihr am richtigen Ort seid. Überstunden werden gern als das Privileg der Fachkräfte bezeichnet – Menschen, die keine Fachkräfte sind, arbeiten oft nach der Uhr und werden von ihr geschützt. Wenn ihr Fachkräfte seid: Wollt ihr nicht lieber für eure Arbeit, Leistung, Kreativität bezahlt werden als für eure Lebenszeit? Denkt mal drüber nach.
3. Meine Führungskraft erwartet Überstunden, schließlich werden sie vorgelebt.
Führungskräfte haben alle möglichen Gründe, Überstunden zu machen, zu denen kommen wir gleich. Für Angestellte ist die Konkurrenz um die längsten Arbeitsstunden ein Rennen, das nicht endet und bei dem folglich niemand gewinnen kann. Schon gar nicht die Diversität im Unternehmen. Und möglicherweise bleibt die Führungskraft nur deshalb so lange im Büro, weil ihr es auch noch nicht nach draußen geschafft habt. Denn:
4. Ich muss mein Team überwachen.
Herzlichen Glückwunsch zu dieser weisen Erkenntnis. Die Angestellten sind also nicht in der Lage, ihre Arbeit zu machen, ohne dass jemand darauf schaut? Führungskräfte sollen führen. Sie sind Vorbilder. Wer es nicht schafft, zeitig Feierabend zu machen, der versagt als Vorbild und stellt gleichzeitig klar: Unsere Arbeitsverträge sind Unfug und bei der Personalplanung haben wir versagt.
5. Die Arbeit ist anders nicht zu schaffen.
Ich höre nur noch: mimimi. Was ich dazu gern sehen würde: wie ihr Verantwortung übernehmt. Überstunden zu machen und das Projekt irgendwie durchzuprügeln, ist das Gegenteil davon. Natürlich lohnt es sich immer mal wieder, länger zu arbeiten. Aber wer dauerhaft Planungsfehler mit mehr Zeit aufzufangen versucht, der wird erstens nichts an der Fehlplanung ändern und zweitens irgendwann krachend an der schwindenden Leistung scheitern.
6. Es sind so viele Team-Mitglieder krank oder im Urlaub.
Das wird vermutlich stimmen. Allerdings: Menschen werden krank. Und Menschen nehmen Urlaub. Beides ist in einem Unternehmen keine große Überraschung. Und beides sollte bei der Personalplanung berücksichtigt werden. Natürlich können Engpässe unerwartet auftreten. Aber wenn ihr ehrlich seid: Meistens ist es eben nicht so. Wenn in einem Team von vier Leuten einer krank und einer im Urlaub ist, dann ist das sehr erwartbar. Und wenn zwei die Arbeit nicht schaffen, dann ist das Team zu klein.
7. Die Leidtragenden wären Schwächere.
Diese Situation gibt es natürlich: Eine Institution plant falsch und wenn die Mitarbeitenden das nicht auffangen, werden Gelder nicht gezahlt, Leistungen nicht gewährt oder für Dritte wichtige Informationen nicht rechtzeitig weitergegeben. In solchen Fällen ranzuklotzen ist ehrenvoll und kurzfristig betrachtet sicherlich richtig. Allerdings: Das Ausfallrisiko ist immens. Wenn die Person, die vorher die anderen gerettet hat, krank wird – was dann? So wird der Einsatz zum Risiko für die Menschen, denen er helfen soll.
8. Weil ich sonst nicht entfristet werde.
Tja. Denk mal drüber nach.
9. Weil alle anderen auch noch da sind und es zusammen so schön ist.
Na, das ist ja schön für euch. Und eine Zeit lang mag das auch gut gehen. Aber überlege dir mal, wie divers euer Team sein kann, wenn die Gruppe so viel Einsatz erfordert. Habt ihr Eltern im Team? Oder Menschen, die andere pflegen? Oder schlimmer noch: Hobbys haben? Wenn du nicht nach Hause gehst, weil du nicht von den Leuten wegwillst: Get a life. Geh raus und such dir Freundinnen und Freunde.
10. Es macht gerade so viel Spaß.
Schön. Weitermachen. Aber bitte nicht zu oft.
Überstunden werden glorifiziert, um Mitarbeitende auf Linie zu halten, doch das System ist auf Dauer so ineffizient wie instabil. Das Leben ist da draußen. Jede Arbeit gelingt besser, wenn man weiß, wie die Welt aussieht, in der man sie leistet. Wenn man Zeit hat, mit den Menschen zu leben, für die die Arbeit gemacht wird. Arbeit kann, darf und soll auch Freude machen. Aber ein Ersatz für das Leben da draußen ist sie nicht.
Immer diese Autorinnen und ihre lasche Lebenseinstellung. xD
Dieser Kommentar gefällt dir nicht?
Tja. Denk mal drüber nach.
Und noch ein kleiner Tipp für den nächsten Artikel:
Das Leben ist da draußen. Jede Arbeit gelingt besser, wenn man weiß, wie die Welt aussieht, in der man sie leistet.
Die Autorin hat selbstverständlich recht, denn deutsche Arbeitsmoral ist einfach widerwärtig und die meisten Arbeitnehmer durch die auf sie einprasselnde Propaganda unmündig.
Unmündigkeit ist in dieser Beziehung selbstverschuldet. Es werden händeringend Fachkräfte gesucht. Wer die Zähne nicht auseinander bekommt, braucht sich später auch nicht beschweren. Das ganze beginnt schon beim Unterzeichnen des Arbeitsvertrages. Wer blind jeden Quark unterschreibt ist selber schuld.
Im Artikel werden wesentliche Faktoren schlicht und einfach außer Acht gelassen. Nicht umsonst lernt jeder Informatiker im ersten Semester erstmal Murphys Law kennen. Niemand plant Wasserschäden, Autounfälle der Mitarbeiter oder sonstiges in seiner PM-Software. Solche Dinge passieren halt einfach und wer dann meint „Ach was. Ich suche mir einfach einen netteren Kunden.“ hat einfach keine Ahnung wie die Wirtschaft funktioniert.
Man kann 100 mal gute Arbeit leisten aber es genügt eine geplatzte Deadline, um seinen guten Ruf zu verlieren und dann wars das auch ziemlich schnell mit den Aufträgen.
Sorry aber Kapitalismus ist kein Wunschkonzert. Man ist ständig in einer Konkurrenzsituation und muss sich gegenüber anderen Anbietern behaupten. Besonders für kleinere Firmen ist das nicht einfach zu meistern, denn da kann man im Falle eines Ausfalls nicht einfach mal eben auf andere Ressourcen zurückgreifen.
Von daher bleibe ich bei meiner Meinung. Es fehlt hier einfach an wesentliches Aspekten und es wird von einem unausgereiften Standpunkt aus verallgemeinert. Von daher zitiere ich den letzten Satz auch gern noch ein zweites mal: „Das Leben ist da draußen. Jede Arbeit gelingt besser, wenn man weiß, wie die Welt aussieht, in der man sie leistet.“
es werden einige Faktoren nicht genannt oder IMHO nicht „ausreichend“ gewürdigt.
Und ich rede jetzt vor allem von Überstunden bei Führungskräfte, also solchen Mitarbeitern, die ihren Arbeitsbereich weitestgehend selbst gestalten und im Vertrag stehen haben, dass Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind.
Das eigentliche Problem sind in meinen Augen die „Schein-Überstunden“.
„Überstunden“ spielen eine wichtige gesellschaftliche Rolle, weil diese Form der Selbstopferung als Aufwertung des Selbstbildes verstanden wird.
Auch hier gilt das aktuelle Credo gesellschaftlichen Seins „das Opfer ist der Held unserer Zeit“!
Diese „Aufopferung“ ist zudem in vielen Branchen (moralischer) Gehaltsbestandteil – so wie auch im Artikel beschrieben. „Schau wie selbstlos ich mich für Euch aufarbeite“. Und das geschieht ganz freiwillig und besonders gerne von Frauen, deren gesellschaftliches Selbstbild meistens eine hohe soziale vor allem selbstlose Komponente hat und daher auch entsprechend dargestellt werden muss.
Deswegen sind Frauen auch viel eher bereit, sich in „brotlosen“ Berufen zu engagieren, wie Kindergärtnerin, Pflegekraft oder ähnlichem.
Diese Berufe müssen daher nicht besser bezahlt werden, weil sie gesellschaftlich mit einem hohen Stellenwert belegt sind. Diese Berufe wurden schon vor 40 Jahren grottenschlecht bezahlt, und wer dann glaubt, dass ausgerechnet er oder sie dann damit ein ausreichendes Auskommen hat, dem ist dann auch nicht mehr zu helfen.
Denn wer sagt schon gerne, dass sie Alte, Kranke oder Kinder (gefühlt) sich selbst überlässt, weil man einen besser bezahlten Job bekommen hat?
„Du kleines, selbstsüchtiges, egoistisches Monster! Du denkst wohl auch nur an Dich?“
Es gibt eine ganze Reihe Studien, die diese Effekte aus dem Umfeld der sozialen Bewährtheit nachweisen. Und es fallen daher eine ganze Reihe der obigen Begründungen in die Kategorie Schutzbehauptung.
Gerade neue junge Unternehmen haben es geschafft, diesen Effekt auch in gehobene Arbeitsbedingungen einzubringen.
„Wir können Dir nicht viel zahlen, aber dafür haben wir eine Lounge (mit einem total „nachhaltigen“ Sofa vom Sperrmüll oder aus Europaletten) mit einem Tisch-Kicker, freie Bionade, veganes Müsli, Einkaufen per Gorilla, einen Wäsche-Hol-und-Bring-Dienst und wir sind hier wie eine große Familie!“
All das sind Anreize, um Mitarbeiter möglichst lange im Unternehmen zu halten. Und eine „große Familie“?! das ist der soziale Druck schon vorprogrammiert.
Auch nicht zu verachten ist der Effekt, dass viele gerade Männer ihre Zeit lieber im Büro verbringen, bis die „Blagen“ im Bett sind.
Ich musste mir mal bei einer Weihnachtsfeier von einer Mitarbeitergattin die Frage gefallen lassen, warum ihr Mann denn immer so lange arbeiten MUSS. Ich hatte ihr dann versprochen, dass ich mir das mal ansehen werden.
Es stellte sich heraus, dass mein Mitarbeiter, vor sie Wahl gestellt, ob er lieber im Büro hockt oder seine Restzeit mit seinen beiden < 10 Jahren alten Kindern verbringt, dann doch ersteres vorzog. Einfach mal ein oder zwei Stunden Ruhe!
Außerdem hatte seine Frau dann das gute Gefühl, dass sein Arbeitsplatz sicher sei, denn ihr Mann "opfert" sich ja für die Firma und damit "schuldet" die Firma Schutz vor Kündigung sowie eine Entschädigung (Beförderung, Gehaltserhöhung, Firmenwagen, etc.)
Am Ende obliegt es jedem selbst. Wir sind alle erwachsen, weitestgehend selbstbestimmt und sollten in der Lage sein, eine entsprechende Kosten-Nutzen-Kalkulation zu machen.