Arbeitgeber sollen künftig die Arbeitszeit der Belegschaft erfassen. In vielen Branchen wie der Pflege und dem Handwerk ist das sinnvoll, da dort teilweise katastrophale Arbeitsbedingungen herrschen. Für Berufe, in denen geistige Arbeit geleistet wird, bringt das sogenannten Stechuhr-Urteil jedoch neue Risiken auf den Plan. Martin Nebeling ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei Bird & Bird. Im t3n-Interview erklärt er, was das Urteil insbesondere für Wissens- und Kreativarbeiter bedeutet und wie es New Work beeinflusst.
t3n.de: Bisher mussten Arbeitgeber nur Mehrarbeit sowie die Sonntags- und Feiertagsarbeit ihrer Beschäftigten erfassen. Das wird sich nun mit dem sogenannten Stechuhr-Urteil ändern. Was besagt das genau?
Martin Nebeling: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet sind, ein Zeiterfassungssystem einzuführen, mit dem der Beginn und das Ende einer jeweiligen Arbeitszeit erfasst werden kann. Dies bezieht sich nicht nur auf die üblichen Arbeitszeiten, sondern auch auf Mehr-, Sonntags- oder Feiertagsarbeit. Diese Zeiterfassung gilt grundsätzlich für alle Arbeitnehmer eines Betriebs. Sofern in dem jeweiligen Betrieb ein Betriebsrat besteht, könnte dieser die konkrete Ausgestaltung eines Zeiterfassungssystems mitbestimmen. Es soll in diesem Zuge auch möglich sein, dass der Arbeitgeber seine Aufzeichnungspflicht an seine Arbeitnehmer delegiert, die ihre Aufzeichnungen dann selbstständig führen müssen. Eine konkrete Ausgestaltung dieser Pflicht durch die Gesetzgebung steht aber derzeit noch aus, sodass noch abgewartet werden muss, welche Vorgaben konkret zu beachten sein werden.
Das Urteil sehen viele Arbeitgeber eher kritisch. Welche Bedenken erleben Sie in der Praxis?
Die Einführung eines verlässlichen Zeiterfassungssystems wird zweifellos zunächst einigen Aufwand und Mühe kosten. Solange es noch an einem entsprechenden Gesetz fehlt, bleibt die konkrete Ausgestaltung zudem völlig unklar. Das BAG erlaubt aber grundsätzlich verschiedene Formen der Arbeitszeiterfassung, sodass der Arbeitgeber immerhin selbst eine passende Methode wählen kann. Dies kann beispielsweise elektronisch oder in Papierform erfolgen. Angesichts der Aktualität dieser Entscheidung wird sich aber noch herausstellen, welche konkreten Herausforderungen bei der Arbeitszeiterfassung zu bewältigen sind.
Nicht nur Arbeitgeber, auch Beschäftigte bestimmter Berufsgruppen, haben Bedenken: Die Wissens- und Kreativarbeiter, die weniger entlang starrer Arbeitsprozesse, sondern eher selbstorganisiert arbeiten, glauben, dass sie in ihrer Flexibilität eingeschränkt werden. Können Sie die Bedenken nachvollziehen?
Die Bedenken dieser Berufsgruppen lassen sich angesichts der in den letzten Jahren zunehmenden geistigen und intellektuellen Arbeit und damit nicht mehr zeitgemäßen starren Arbeitszeitregelungen gut nachvollziehen. Das ursprüngliche Gesetz beabsichtigte, dass insbesondere körperlich arbeitende Arbeitnehmer, beispielsweise bei Industriearbeiten, vor gesundheitlichen Schäden bewahrt werden sollten. Dies wurde beispielsweise durch einen Mindestabstand von Feierabend bis zum nächsten Arbeitsbeginn von mindestens elf Stunden verfolgt. Dieser körperliche Schutz ist in vielen Berufsgruppen heutzutage aber weniger relevant, da viele Arbeitnehmer zunehmend intellektuellen und weniger körperlichen Tätigkeiten nachgehen.
Liegt das Problem in der jetzigen Arbeitszeiterfassung oder im Arbeitszeitgesetz per se?
Durch die Einführung der Arbeitszeiterfassung wird nun befürchtet, dass flexibleres Arbeiten nicht mehr möglich sein wird, da die Erfassung dazu führen könnte, dass Verstöße gegen zeitliche Grenzen zweifelsfrei festgehalten werden. Dieses Problem setzt aber tatsächlich bereits bei den arbeitszeitgesetzlichen Regelungen an. Die Arbeitszeiterfassung würde lediglich dazu führen, dieses Problem nun aufzudecken.
Auch Menschen, die im Homeoffice arbeiten, sehen das Urteil kritisch. Sie geben an, dass die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verschwimmen. Zwischen dem ein und dem anderen beruflichen Telefonat wird nicht selten mal eine Waschmaschine angestellt oder die Tür für den Postboten geöffnet. Müssen diese Unterbrechungen nun festgehalten werden?
Durch die Zeiterfassung soll ein objektives, verlässliches und zugängliches System geschaffen werden, mit dem die von dem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Dies soll dem Schutz der Arbeitnehmer dienen, nicht ihrer minutiösen Überwachung. Es spricht vieles dafür, die Erfassung der Arbeitszeit an eine gewisse Erheblichkeit anzuknüpfen. Auch bei der Büroarbeit wird schließlich nicht jede kleinste Pause entsprechend erfasst. Die konkrete Abgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit ist bereits jetzt eine Herausforderung. Insofern bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber präzise Vorgaben treffen wird, an denen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer orientieren können. Die genauen Praxisvorgaben sind aber noch nicht bekannt.
Was gilt eigentlich für Berufstätige, die teilweise im europäischen Ausland arbeiten? Reist das Urteil im Handgepäck mit?
Auch wenn das Arbeitszeitgesetz ein nationales Gesetz ist, spricht vieles dafür, dass zumindest Arbeitnehmer, die in einem deutschen Arbeitsverhältnis stehen, sich auch dann an die Vorgaben zur Zeiterfassung halten müssen, wenn sie außerhalb der Landesgrenzen arbeiten.
Inwieweit dürfte das Gesetz noch weitere Novellierungen nach sich ziehen? Bislang gibt es einige offene Punkte, beispielsweise ob und inwieweit das Urteil auch leitende Angestellte wie Geschäftsführer betrifft, die ja tendenziell keine Wochenarbeitszeit im Arbeitsvertrag stehen haben.
Bislang existiert in diesem Zusammenhang lediglich das Arbeitszeitgesetz, welches für leitende Angestellte, also beispielsweise Geschäftsführer, nicht anwendbar ist. Für die Umsetzung des Beschlusses des BAG existiert hingegen noch keine gesetzliche Regelung. Ob der Gesetzgeber dafür das bisherige Arbeitszeitgesetz ergänzen oder ein völlig neues Gesetz erlassen und in diesem Zuge auch leitende Angestellte erfassen wird, bleibt noch abzuwarten.
Welche Punkte sehen Sie noch als tendenziell unklar?
In der Diskussion um die Arbeitszeiterfassung wird immer wieder auf das Problem aufmerksam gemacht, dass die starren Regelungen des Arbeitszeitgesetzes nicht mehr zeitgemäß sind und der Arbeitswirklichkeit vieler Beschäftigter schlicht widersprechen. Unklar ist beispielsweise auch, wie genau die Abgrenzungen zwischen Freizeit und Arbeitszeit getroffen und festgehalten werden sollen und inwiefern in diesem Zuge auf den Grad einer psychischen Belastung für den Arbeitnehmer abzustellen ist. Stichwort: Erreichbarkeit im Feierabend. Interessant bleibt insofern insbesondere, ob der Gesetzgeber den Anstoß des BAG dafür nutzen wird, die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes insgesamt auf die heutige Arbeitswelt anzupassen.
Sie sagten es bereits: Das Stechuhr-Urteil lässt offen, ob schriftlich oder digital aufgezeichnet werden muss. Was würden Sie persönlich empfehlen? Auch im Hinblick auf mögliche juristische Belange, sollte es zu einer Überprüfung kommen?
Da es insofern noch keine präzisen gesetzlichen Vorgaben gibt, kann es sinnvoll sein, das konkrete Vorgehen an das Arbeitsumfeld und die Tätigkeiten der Beschäftigten zu knüpfen. So wird es für einen Arbeitnehmer im Vertrieb oder in der Montage nicht sinnvoll sein, zunächst eine elektronische Erfassung mittels Einloggen in einem System zu fordern, bevor diese zu ihrer täglichen Arbeit aufbrechen. Hier könnte eine Erfassung mittels Papierform erfolgen. Für Beschäftigte mit Bürotätigkeiten hingegen kann es die praxisnähste Lösung sein, sich in einem elektronischen System anzumelden.