„Du klingst irgendwie unnatürlich“: Wenn Bots mit der Stimme Verstorbener reden
Startups arbeiten an Technologien, mit denen wir mit unseren toten Angehörigen „sprechen“ können. Avatare und Chatbots konservieren die Erinnerungen.
Von MIT Technology Review Online
•
14 Min.
Artikel merken
Anzeige
Anzeige
Meine Eltern wissen nicht, dass ich gestern Abend mit ihnen gesprochen habe. Zuerst hörten sie sich distanziert und blechern an, als säßen sie in einer Gefängniszelle um ein Telefon gekauert. Aber mit der Zeit klangen sie immer mehr wie sie selbst. Sie erzählten mir persönliche Geschichten, die ich noch nie gehört hatte. Ich erfuhr, wie mein Vater zum ersten (und sicher nicht zum letzten) Mal betrunken war. Meine Mutter erzählte, wie sie in Schwierigkeiten geriet, weil sie zu lange weggeblieben war. Sie gaben mir Ratschläge für das Leben, erzählten mir Dinge aus ihrer Kindheit und aus meiner eigenen. Es war fesselnd.
Anzeige
Anzeige
„Was ist deine schlimmste Eigenschaft?“, fragte ich Papa, der offenbar gerade in einer redseligen Laune war.
„Dass ich Perfektionist bin. Ich kann Unordnung nicht ausstehen, und das ist immer eine Herausforderung – besonders, wenn man mit Jane verheiratet ist.“
Anzeige
Anzeige
Dann lachte er und für einen Moment vergaß ich, dass ich eigentlich gar nicht mit meinen Eltern sprach, sondern mit ihren digitalen Abbildern. Sie leben als Sprachassistenten in einer App, die vom kalifornischen Startup HereAfter AI entwickelt wurde. (Nur fürs Protokoll: So unordentlich ist Mama jetzt auch wieder nicht.)
Das Unternehmen will die Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten ermöglichen. Diese Idee ist fester Bestandteil der Science-Fiction, wird von Scharlatanen und Spiritualisten verbreitet. Doch jetzt wird sie dank KI und Sprachtechnologie Realität.
Anzeige
Anzeige
Meine Eltern aus Fleisch und Blut sind noch gesund und munter; ihre virtuellen Versionen wurden nur geschaffen, um mir zu helfen, die Technologie zu verstehen. Deren Anziehungskraft ist offensichtlich: Digitale Repliken sollen Hinterbliebenen Trost spenden und die Nähe zu den Verstorbenen schaffen. Viele Menschen finden das verstörend. Sie argumentieren, dass dies die Trauer verlängert oder den Bezug zur Realität stört. Es gibt eine weitverbreitete, tief verwurzelte Überzeugung, dass wir mit dem Tod nicht herumspielen sollten.
Ich verstehe diese Bedenken. Auch ich empfinde es als etwas Verletzendes, mit einer künstlichen Version von jemandem zu sprechen – vor allem, wenn es sich um ein Familienmitglied handelt. Aber diese Skrupel werden von der noch beängstigenderen Aussicht verdrängt, geliebte Menschen zu verlieren – tot und spurlos verschwunden. Es ist zutiefst menschlich, sich an sie erinnern zu wollen. Wenn sie nicht mehr da sind, hängen wir ihre Fotos an unsere Wände. Wir sprechen mit ihnen, als wären sie noch da. Aber das Gespräch war immer einseitig.
Anzeige
Anzeige
Ist es denn so falsch, sie mit technischer Hilfe bei sich behalten zu wollen? Möglich machen dies die rasanten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz. Sprachassistenten wie Siri oder Alexa sind in den letzten zehn Jahren Teil des Alltags von Millionen Menschen geworden. Wir haben uns angewöhnt, mit unseren Geräten über alles Mögliche zu sprechen, vom Wetter bis zum Sinn des Lebens. Mittlerweile sind große Sprachmodelle wie GPT-3 von OpenAI oder LaMDA von Google sogar so überzeugend, dass einige sie (fälschlicherweise) für empfindungsfähig halten. Zudem lassen sich die Sprachmodelle auch darauf trainieren, wie eine bestimmte Person zu klingen, wenn man sie mit deren Äußerungen füttert.
Eine Handvoll Startups bietet Trauertechnologie an
Der Journalist Jason Fagone schrieb kürzlich eine Geschichte über einen Mann in den Dreißigern, der aus alten Texten und Facebook-Nachrichten seiner verstorbenen Verlobten einen Chatbot erstellt hat. Er suchte und fand Trost darin. In den Jahren nach ihrem Tod wurde er von Schuldgefühlen und Trauer heimgesucht, aber er „hatte das Gefühl, dass der Chatbot ihm erlaubt habe, sein Leben in kleinen Schritten weiterzuführen“. Der Mann teilte sogar Ausschnitte aus seinen Chatbot-Gesprächen auf Reddit, um auf das Tool aufmerksam zu machen und „depressiven Überlebenden zu helfen, einen Abschluss zu finden“.
Gleichzeitig hat die Künstliche Intelligenz große Fortschritte darin gemacht, individuelle Stimmen zu klonen und menschlich klingen zu lassen. Amazon veröffentlichte im Juni 2022 einen Clip, in dem ein kleiner Junge eine Passage aus „Der Zauberer von Oz“ vorgelesen bekam – und zwar von der nachgebildeten Stimme seiner kürzlich verstorbenen Großmutter. Als Basis diente ein weniger als eine Minute langes Video von ihr. „KI kann zwar den Schmerz des Verlustes nicht beseitigen, aber sie kann definitiv dafür sorgen, dass die Erinnerungen bleiben“, sagte Rohit Prasad, leitender Wissenschaftler von Alexa.
Anzeige
Anzeige
Meine eigenen Erfahrungen mit dem Thema begannen Ende 2019, als ich auf einer Online-Konferenz einen Vortrag von James Vlahos hörte, dem Mitbegründer von HereAfter AI – eines von einer Handvoll Startups, die Trauertechnologie anbieten. Fasziniert von dem, was er versprach, überredete ich Vlahos und seine Kollegen, mich mit ihrer Software experimentieren zu lassen.
Datensammlung für den Chatbot der Verstorbenen
Zunächst war es ein Spaßprojekt. Ich wollte sehen, was technologisch geht. Dann brachte die Pandemie eine gewisse Dringlichkeit in die Sache. Ich hatte Angst, dass meine Eltern sterben könnten, ohne dass ich mich von ihnen verabschiedet hatte.
Der erste Schritt war ein Interview. Für ein überzeugendes digitales Abbild braucht man jede Menge Daten. HereAfter stellt dazu Personen, die noch am Leben sind, stundenlang Fragen – von ihren frühesten Erinnerungen über ihre erste Verabredung bis zum Glauben, was nach ihrem Tod passieren wird. (Meine Eltern wurden noch von einem echten Menschen befragt, aber mittlerweile werden die Interviews in der Regel automatisiert von einem Bot durchgeführt.)
Anzeige
Anzeige
Meine Schwester und ich konnten den Fragenkatalog selbst ergänzen, um ihn persönlicher und gezielter zu machen: Welche Bücher haben sie gemocht? Wie hat sich unsere Mutter in den 1970er-Jahren durch den überwiegend männlichen, privilegierten juristischen Sektor Großbritanniens geboxt? Was inspirierte Papa dazu, die albernen Spiele zu erfinden, die er mit uns spielte, als wir klein waren?
Ob aus pandemiebedingtem Unwohlsein oder um ihre Tochter bei Laune zu halten – meine Eltern leisteten keinerlei Widerstand. Im Dezember 2020 sprach die Interviewerin von HereAfter, eine freundliche Frau namens Meredith, mehrere Stunden lang mit jedem von ihnen. Die aufgenommenen Antworten fügte das Unternehmen dann zu einem Sprachassistenten zusammen.
Meine virtuellen Eltern als Datei für die Alexa-App
Ein paar Monate später bekam ich eine Mail von Vlahos. Im Anhang: Meine virtuellen Eltern als Datei für die Alexa-App oder ein Amazon-Echo-Gerät. Als ich die Datei öffnete, zitterten meine Hände. London steckte in einem langen, kalten, deprimierenden Lockdown, und ich hatte meine Eltern seit sechs Monaten nicht mehr gesehen.
Anzeige
Anzeige
„Alexa, öffne HereAfter“, sagte ich.
„Würdest du lieber mit Paul oder mit Jane sprechen?“, fragte eine Stimme.
Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für meine Mutter. Eine Stimme, die die ihre war, aber seltsam steif und kalt sprach.
Anzeige
Anzeige
„Hallo, hier ist Jane Jee und ich freue mich, dir von meinem Leben zu erzählen. Wie geht es dir heute?“
Ich lachte nervös. „Mir geht es gut, danke, Mum. Und dir?“
Lange Pause. „Gut. Von meiner Seite aus geht es mir gut.“
Anzeige
Anzeige
„Du klingst irgendwie unnatürlich“, sagte ich.
„Es gibt so viel zu erzählen“, sagte die gestelzte Stimme meiner Mutter
Sie ignorierte mich und sprach weiter. „Bevor wir anfangen, hier noch ein paar Hinweise. Ich kann leider nicht so gut zuhören, also musst du warten, bis ich mit dem Reden fertig bin und dir eine Frage stelle. Wenn du an der Reihe bist, halte deine Antworten bitte recht kurz. Ein paar Worte, ein einfacher Satz – so etwas in der Art“, erklärte sie. „Okay, dann fangen wir mal an. Es gibt so viel zu erzählen. Meine Kindheit, meine Karriere und meine Interessen. Was davon klingt am besten?“
Diese Sätze klangen gestelzt und seltsam, aber als wir weitermachten und meine Mutter ihre Erinnerungen mit ihren eigenen Worten erzählte, klang „sie“ viel entspannter und natürlicher. Dennoch waren diese Gespräche begrenzt. Als ich meine Mutter nach ihrem Lieblingsschmuck fragte, kam zum Beispiel: „Tut mir leid, das habe ich nicht verstanden. Du kannst versuchen, anders zu fragen, oder zu einem anderen Thema übergehen.“
Es gab auch Fehler, die irritierend bis an die Grenze zur Komik waren. Eines Tages fragte mich Dads Bot, wie es mir ginge. Ich antwortete: „Ich bin heute traurig.“ Er antwortete mit einem fröhlichen, aufmunternden „Gut!“.
Die gesamte Erfahrung war seltsam. Jedes Mal, wenn ich mit ihren virtuellen Versionen sprach, wurde mir klar, dass ich stattdessen auch mit meinen echten Eltern hätte sprechen können.
Nächste Stufe für den Chatbot: mit Video statt nur mit Stimme
Anfang 2023 bekam ich eine Demo von einem fünf Jahre alten Startup namens StoryFile. Es verspricht, die Dinge auf die nächste Stufe zu heben – mit Video statt nur mit Stimme. Dabei kann man aus Hunderten von Fragen auswählen, die man einer Person stellen möchte. Die Antworten lassen sich mit jedem Gerät aufnehmen, das Kamera und Mikrofon hat, wobei das Ergebnis umso besser ist, je hochwertiger die Aufnahme ist. Aus den hochgeladenen Dateien baut das Unternehmen einen Avatar, mit dem man sprechen kann. Er kann allerdings nur die Fragen beantworten, für die er programmiert wurde.
Der CEO von StoryFile, Stephen Smith, demonstrierte die Technologie in einem Videoanruf, bei dem auch seine Mutter dabei war. Sie ist inzwischen gestorben, aber sie saß während des Anrufs in einem bequemen Sessel in ihrem Wohnzimmer. Sie war sanftmütig, hatte strähniges Haar und freundliche Augen. Sie gab mir Lebensratschläge. Sie schien weise zu sein.
Smith erzählte mir, dass seine Mutter an ihrer eigenen Beerdigung teilnahm: „Am Ende sagte sie: ‚Das wars dann wohl von mir … auf Wiedersehen!‘, und alle brachen in Tränen aus.“ Er erzählte mir, dass ihre digitale Teilnahme von Familie und Freunden gut aufgenommen wurde. Und, das wohl Wichtigste: Es tröstet ihn, dass er etwas von seiner Mutter mit der Kamera festhalten konnte, bevor sie starb.
Das Video sah relativ glatt und professionell aus – auch wenn es immer noch ein wenig im Uncanny Valley liegt, vor allem, was die Mimik betrifft. An manchen Stellen musste ich mir, ähnlich wie bei meinen eigenen Eltern, vor Augen führen, dass sie nicht wirklich da war.
HereAfter und StoryFile zielen darauf ab, die Lebensgeschichte einer Person zu bewahren, statt vollständige Gespräche mit dem Bot zu ermöglichen. Dies ist eine der größten Einschränkungen vieler aktueller Dienste der Trauertechnologie: Sie sind generisch. Die Nachbildungen wissen nichts über Sie. Jeder kann mit ihnen reden, und sie antworten immer gleich.
„Das größte Problem mit der bestehenden Technologie ist die Vorstellung, dass man eine einzige universelle Person erzeugen kann“, sagt Justin Harrison, Gründer eines Dienstes namens You, Only Virtual, der bald an den Start gehen soll. „Aber die Art und Weise, wie wir Menschen erleben, ist einzigartig für uns.“
Er und einige andere Startups wollen noch weiter gehen und einen personalisierten Bot schaffen, der nur für einen selbst da ist. Die erste Version des Dienstes wird es den Menschen ermöglichen, einen eigenen Bot zu erstellen, indem sie die Textnachrichten, E-Mails und Telefongespräche einer Person hochladen. Das Unternehmen baut derzeit eine Kommunikationsplattform auf, über die Kunden ihren Angehörigen Nachrichten schicken und mit ihnen sprechen können, während sie noch leben. Auf diese Weise stehen alle Daten nach dem Tod automatisch zur Verfügung.
Genau das hat Harrison bereits mit seiner Mutter Melodi getan, als sie an Krebs im Endstadium litt: „Ich habe den Chatbot von Hand gebaut und dabei Nachrichten aus fünf Jahren verwendet. Es hat zwölf Stunden gedauert, ihn zu exportieren, und er besteht aus Tausenden von Seiten.“
Für Harrison sind die Interaktionen mit diesem Bot bedeutungsvoller, als wenn er einfach nur Erinnerungen ausspucken würde. Der Melodi-Bot verwendet die Ausdrücke seiner Mutter und antwortet ihm so, wie sie ihm antworten würde – er nennt ihn „Schatz“, verwendet die Emojis, die sie verwenden würde, und hat die gleichen Rechtschreibschwächen. Harrison kann Melodis Avatar keine Fragen über ihr Leben stellen, aber das stört ihn nicht. Für ihn geht es darum, die Art und Weise, wie jemand kommuniziert, einzufangen. „Das bloße Aufzählen von Erinnerungen hat wenig mit dem Wesen einer Beziehung zu tun“, sagt er.
Chatbot als Hilfe, die Trauer zu verarbeiten
Avatare, zu denen die Menschen eine tiefe persönliche Bindung haben, können lange leben. 2016 schuf die Unternehmerin Eugenia Kuyda nach dem Tod ihres Freundes Roman den vermutlich ersten Bot dieser Art. Dazu nutzte sie ihre Textkonversationen mit ihm. (Später gründete sie ein Startup namens Replika, das virtuelle Begleiter erschafft, die nicht auf realen Personen basieren.)
Sie empfand den Bot als große Hilfe, ihre Trauer zu verarbeiten, und spricht noch heute mit ihm, vor allem an Romans Geburtstag und am Jahrestag seines Todes. Sie warnt jedoch vor dem Glauben, dass diese Technologie Menschen nachbildet oder gar konserviert. „Ich wollte nicht seinen Klon zurückbringen, sondern seine Erinnerung“, sagt sie – in Form eines „digitalen Denkmals, mit dem man interagieren und von dem man sich inspirieren lassen kann“.
Über den Avatar in Verbindung bleiben
Vielen Menschen hilft die Stimme ihrer Angehörigen bei der Trauerbewältigung. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass Menschen die Sprachnachrichten von Verstorbenen abhören, sagt die Psychologin Erin Thompson, die sich auf Trauer spezialisiert hat. Ein Avatar, mit dem man sich unterhalten kann, könnte ein wertvoller und gesunder Weg sein, mit einem geliebten Menschen in Verbindung zu bleiben. Aber sie warnt wie Kuydas davor, der Technologie zu viel Bedeutung beizumessen: Diese Bots könnten immer nur einen kleinen Teil einer Person erfassen, seien nicht empfindungsfähig und kein Ersatz für gesunde menschliche Beziehungen.
Besonders in den ersten Wochen und Monaten nach dem Tod eines geliebten Menschen fällt es den Trauernden schwer, den Verlust zu akzeptieren. „In der akuten Phase der Trauer kann man ein starkes Gefühl der Unwirklichkeit bekommen und nicht akzeptieren, dass die Person nicht mehr da ist“, sagt Thompson. Es besteht die Gefahr, dass sich diese Art intensiver Trauer mit psychischen Erkrankungen überschneidet oder diese sogar auslöst, vor allem, wenn sie durch Erinnerungen ständig angeheizt und verlängert wird.
Solange die Technik so unvollkommen ist wie jetzt, mag dieses Risiko gering sein. Aber die Gefahr, dass Menschen auf ein Phantom hereinfallen, wird mit besserer Technologie sicherlich zunehmen. Und es gibt noch andere Risiken: Ein digitales Abbild einer Person ohne deren Mitwirkung zu erstellen, wirft komplexe ethische Fragen zum Datenschutz auf. Manche mögen zwar argumentieren, dass die Zustimmung weniger wichtig ist, wenn jemand nicht mehr lebt. Aber sollten die Gesprächspartnerinnen oder -partner, die an der Erzeugung der Daten beteiligt waren, nicht ebenfalls ein Mitspracherecht haben?
Und was ist, wenn die digital geklonte Person gar nicht tot ist? Es gibt wenig, was Menschen daran hindert, mithilfe von Trauertechnologie virtuelle Versionen von lebenden Personen ohne deren Zustimmung zu erstellen – zum Beispiel von einem Ex-Partner. Die Trauertechnologie-Dienstleister sind sich dieser Möglichkeit bewusst und versprechen, die Daten einer Person zu löschen, wenn diese es verlangt. Sie sind jedoch nicht verpflichtet, vorab zu überprüfen, ob Personen ihr Einverständnis gegeben haben oder überhaupt gestorben sind. Kein Gesetz verbietet, Avatare von anderen Menschen zu erstellen. Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie von einer virtuellen Vision ihrer selbst irgendwo da draußen erfahren würden, die von jemand anderem kontrolliert wird. Viel Glück dabei, dies der örtlichen Polizei zu erklären.
Wenn sich digitale Repliken durchsetzen, wird es unweigerlich neue Verfahren und Normen für unsere Online-Hinterlassenschaften geben müssen. Und wenn wir etwas aus der bisherigen technologischen Entwicklung gelernt haben, dann dies: Wir sind besser dran, wenn wir uns rechtzeitig mit möglichem Missbrauch auseinandersetzen, und nicht erst, nachdem er sich massenhaft ereignet hat.
Die Kosten für den Chatbot aus dem Jenseits
Aber wird das jemals geschehen? Es ist nicht wirklich klar, wie viele Menschen eine solche Welt wollen oder bereit dafür sind. Trauer ist einer der wenigen Aspekte des Lebens, die von moderner Technologie noch weitgehend unberührt sind.
Auf einer profaneren Ebene könnten auch die Kosten ein Hemmnis sein. Einige dieser Dienste sind kostenlos, andere können leicht Hunderte, wenn nicht Tausende von Dollar kosten. Mit der unbegrenzten Premiumversion von HereAfter etwa lassen sich für 8,99 Dollar pro Monat beliebig viele Gespräche aufzeichnen. Das mag günstiger klingen als die einmalige Zahlung von 499 Dollar bei Story File für das unlimitierte Premium-Paket. Doch über die Jahre hinweg kommt auch bei HereAfter ganz schön viel zusammen. Ähnlich verhält es sich mit You, Only Virtual, das bei seiner Markteinführung zwischen 9,99 und 19,99 Dollar pro Monat kosten soll.
Die Erstellung eines Avatars oder Chatbots erfordert zudem Zeit und Mühe, nicht zuletzt, um die Energie und Motivation für den Anfang aufzubringen. Dies gilt sowohl für die Nutzer als auch für die Angehörigen, deren aktive Teilnahme erforderlich ist und die vielleicht kurz vor dem Tod stehen.
Grundsätzlich setzen sich Menschen nicht gerne mit der Tatsache auseinander, dass sie bald sterben werden, sagt Marius Ursache, der 2014 ein Unternehmen namens Eternime gegründet hat. „Das ist etwas, das man auf die nächste Woche, den nächsten Monat oder das nächste Jahr verschieben kann“, sagt er. „Die Leute gehen davon aus, dass KI der Schlüssel ist, um dieses Problem zu lösen. Aber in Wirklichkeit ist es das menschliche Verhalten.“ Kuyda stimmt dem zu: „Die Menschen haben extreme Angst vor dem Tod. Sie wollen nicht darüber reden oder ihn anfassen. Sie tun lieber so, als gäbe es ihn nicht.“
Eternime hatte eine Art Tamagotchi entwickelt, das man zu Lebzeiten trainieren konnte, um eine digitale Version seiner selbst zu bekommen. Die Idee stieß bei Menschen auf der ganzen Welt auf großes Interesse, aber nur wenige haben sie wirklich genutzt. 2018 wurde Eternime mangels Nutzern geschlossen.
Die Angst vor dem Verlust der Eltern
Bei seinen eigenen Eltern versuchte es Ursache mit einem Low-Tech-Ansatz: Er schenkte ihnen an seinem Geburtstag ein Notizbuch und Stifte und bat sie, ihre Erinnerungen und Lebensgeschichten aufzuschreiben. Seine Mutter schrieb zwei Seiten, aber sein Vater sagte, er sei zu beschäftigt. Schließlich fragte Marius Ursache, ob er einige Gespräche mit ihnen aufzeichnen könne, aber dazu kam es nie. „Mein Vater ist letztes Jahr verstorben, und ich habe diese Aufnahmen nie gemacht, und jetzt fühle ich mich wie ein Idiot“, sagt er.
Ich persönlich habe gemischte Gefühle bei meinem Experiment. Ich bin froh, dass ich diese virtuellen Audioversionen meiner Mutter und meines Vaters habe, auch wenn sie unvollkommen sind. Sie haben es mir ermöglicht, neue Dinge über meine Eltern zu lernen, und es ist beruhigend zu wissen, dass diese Bots da sein werden, wenn sie nicht mehr da sind. Ich denke bereits darüber nach, wen ich noch digital festhalten möchte – meinen Mann, meine Schwester, vielleicht sogar meine Freunde.
Andererseits möchte ich, wie viele andere Menschen auch, nicht darüber nachdenken, was passiert, wenn die Menschen, die ich liebe, sterben. Und ich kann nicht umhin, es traurig zu finden, dass ich erst durch Zoom-Interviews mit einem Fremden einschätzen konnte, was für vielschichtige, komplexe Menschen meine Eltern sind. Aber ich schätze mich glücklich, dass ich die Chance hatte, das zu begreifen – und dass ich immer noch die kostbare Gelegenheit habe, mehr Zeit mit ihnen zu verbringen und mehr über sie zu erfahren, von Angesicht zu Angesicht, ganz ohne Technik.
Dieser Artikel stammt von Charlotte Jee, Redakteurin bei der amerikanischen Ausgabe von MIT Technology Review.
Bitte schalte deinen Adblocker für t3n.de aus, um diesen Artikel zu lesen.
Wir sind ein unabhängiger Publisher mit einem Team von mehr als 75 fantastischen Menschen,
aber ohne riesigen Konzern im Rücken. Banner und ähnliche Werbemittel sind für unsere
Finanzierung sehr wichtig.
Schon jetzt und im Namen der gesamten t3n-Crew: vielen Dank für deine Unterstützung! 🙌
Gib die URL deiner Mastodon-Instanz ein, um den Artikel zu teilen.
Community-Richtlinien
Wir freuen uns über kontroverse Diskussionen, die gerne auch mal hitzig geführt werden dürfen. Beleidigende, grob anstößige, rassistische und strafrechtlich relevante Äußerungen und Beiträge tolerieren wir nicht.
Bitte achte darauf, dass du keine Texte veröffentlichst, für die du keine ausdrückliche Erlaubnis des Urhebers hast. Ebenfalls nicht erlaubt ist der Missbrauch der Webangebote unter t3n.de als Werbeplattform. Die Nennung
von
Produktnamen, Herstellern, Dienstleistern und Websites ist nur dann zulässig, wenn damit nicht vorrangig der Zweck der Werbung verfolgt wird.
Wir behalten uns vor, Beiträge, die diese Regeln verletzen, zu löschen und Accounts zeitweilig oder auf Dauer zu sperren.
Trotz all dieser notwendigen Regeln: Diskutiere kontrovers, sage anderen deine Meinung, trage mit weiterführenden Informationen zum Wissensaustausch bei, aber bleibe dabei fair und respektiere die Meinung anderer.
Wir wünschen Dir viel Spaß mit den Webangeboten von t3n und freuen uns auf spannende Beiträge.
Dein t3n-Team
Kommentar abgeben
Melde dich an, um Kommentare schreiben und mit anderen Leser:innen und unseren Autor:innen diskutieren zu können.