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Analyse

Digitalisierung: Kann das „Android der Industrie 4.0“ aus Deutschland kommen?

In der von Konsumenten geprägten ersten Phase der IT-Revolution gaben Amerikaner den Ton an. Ändert sich das nun mit der Digitalisierung der Industrie?

Von Stephan Dörner
8 Min.
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Digitale Transformation in der Industrie: Roboter in der Modellfabrik der Uni Kassel. (Foto: dpa)

Bei der IT-Revolution kamen die Innovationen in den vergangenen Jahrzehnten fast immer aus den USA. Asien wurde ab den 1980er Jahren zur Werkbank der IT-Branche – Europa blieb Nachzügler.

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Doch Europa bekommt eine zweite Chance, denn die zweite große Welle der Digitalisierung und Vernetzung hat gerade erst begonnen: Produktionsanlagen und Logistik sollen untereinander kommunizieren – von Windrädern über Lokomotiven bis zu Verpackungsmaschinen. Wird in dieser zweiten Phase der Digitalisierung der Einfluss der Europäer größer? Immerhin gilt insbesondere die deutsche Industrie als technisch in vielen Bereichen als führend.

Könnte also das „Android“ der Industrie diesmal von Europäern kommen – von Siemens, Schneider Electric oder SAP? Derzeit spricht mehr dagegen als dafür. Wieder scheinen die Amerikaner etwas weiter – in diesem Fall der amerikanische Siemens-Konkurrent General Electric (GE).

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„Ähnlich wie wir es beim Konsumenten gesehen haben, wird das Unternehmen, dem die Plattform gehört, gewinnen – das ist ein ‚Winner takes it all’-Spiel“

Das ist umso tragischer für Europa, weil der Consumer-Zug der Digitalisierung bereits abgefahren scheint: In den politischen Kreisen der Europäischen Union wird die geballte Plattform-Power von Google, Apple, Facebook und Amazon oft GAFA abgekürzt – halb verächtlich, halb anerkennend. Den Dax 30, die größten börsennotierten Unternehmen aus Deutschland, steckten die IT-Giganten bereits 2014 in ihrer Marktkapitalisierung in die Tasche.

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Schlägt die Plattform-Ökonomie auch bei der Industrie 4.0 zu?

Grund dafür ist die Macht der Plattform-Ökonomie: Wer seine Lösung als den Branchenstandard durchsetzt, profitiert in der Folge von allen Umsätzen, die auf der eigenen Plattform stattfinden. Sogenannte Netzwerkeffekte sorgen dafür, dass es Konkurrenten gegen einmal etablierte Plattformen schwer haben. Ein gutes Beispiel dafür ist Facebook: Weil die meisten Freunde ohnehin auf dem sozialen Netzwerk sind, melden sich die meisten neuen Nutzer auch dort an – andere soziale Netzwerke ohne Alleinstellungsmerkmal haben es schwer.

Der US-Industriegigant General Electric (GE) geht davon aus, dass sich auch für das industrielle Internet – die Industrie 4.0 – eine solches Plattform-Modell durchsetzt. „Ähnlich wie wir es beim Konsumenten gesehen haben, wird das Unternehmen, dem die Plattform gehört, gewinnen – das ist ein ‚Winner takes it all’-Spiel“, sagt ein Unternehmenssprecher. Die Plattform-Lösung von GE heißt Predix. „Kein anderes Unternehmen hat wie GE in Plattform und Applikationen speziell für die industrielle Welt investiert“, so der Sprecher.

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Vernetzte Fertigung: Industrie 4.0 bei Bosch. (Foto: Bosch)

Der Anspruch von Predix ist damit nicht weniger, als das „Android“ der industriellen Welt zu werden. Über die Plattform sollen industrielle Geräte aller Art untereinander auf standardisierte Weise vernetzt werden, von Windrädern über Lokomotiven bis zu Verpackungsmaschinen. Ähnlich wie Google setzt bei Predix dabei auf einen „offenen“ Ansatz: Die Plattform soll nicht nur mit den eigenen Maschinen und Software kompatibel sein – eine Voraussetzung dafür, einen Standard zu schaffen.

Technische Revolutionen auf Seiten der produzierenden Industrie vollziehen sich aber langsamer als in den Händen von Verbrauchern. Maschinen werden auf viele Jahre, manchmal Jahrzehnte, angeschafft und haben lange Entwicklungszyklen.

Weitere ähnliche Systeme kommen beispielsweise vom deutschen Anbieter Bosch Software Innovations, von Accenture, IBM und PTC, dessen Lösung Thingworx heißt. Eine aus Berlin stammende Lösung heißt Relayr und kann Partner wie Bosch, Amazon, Cisco und Intel vorweisen. Als Konkurrenz für Predix sieht GE selbst eher Technologieunternehmen als traditionelle industrielle Wettbewerber des Konzerns wie Siemens.

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Vernetzte Industrie 4.0: Siemens‘ Antwort auf Predix von GE heißt Mindsphere

Die Antwort vom deutschen direkten GE-Konkurrenten Siemens auf Predix heißt Mindsphere. „Mindsphere ist das offene, cloudbasierte IoT-Betriebssystem von Siemens“, sagt ein Unternehmenssprecher von Siemens auf Anfrage. Zu den Kunden gehörten beispielsweise das Maschinenbauunternehmen Gämmerler, das Maschinen an Mindsphere anschließt und Daten über die Mind-App „Visual Analyzer“ analysieren. Dadurch könne das Unternehmen weltweit Kunden, bei denen die Maschinen im Einsatz sind, digitale Dienste „out oft he box“ anbieten und die Maschinenverfügbarkeit erhöhen. Weitere Kunden will Siemens nicht nennen.

Mit der Cloud-basierten Software Mind-App von Siemens ließen sich beispielsweise Werkzeugmaschinen in Produktionsstätten weltweit überwachen. „Theoretisch ist es damit beispielsweise auch möglich, dass Betreiber von Produktionsstätten Maschinenstunden flexibel nach Bedarf anbieten“, so der Sprecher weiter.

Vollautomatisierte Modellfabrik an der Universität Kassel. (Foto: dpa)

Immerhin kann Europa bereits einen Erfolg vorweisen: Der Begriff Industrie 4.0, eine Erfindung der deutschen Bundesregierung, wird inzwischen auch international genutzt – General-Electric-Chef Jeffrey R. Immelt beispielsweise sprach von der „Industry 4.0“ beim Intel Developer Forum im vergangenen September in San Francisco.

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Die entscheidende Rolle bei der Industrie 4.0 wird aber die verwendete Software spielen – und das könnte der deutschen Industrie zum Verhängnis werden. Hierzulande wird Ingenieurskunst noch immer eher mit Stahl und Spaltmaß in Verbindung gebracht, als mit Software-Entwicklung.

Grundsätzlich steht GE dabei vor ähnlichen Herausforderungen wie der deutsche Technologiekonzern Siemens. Beide Unternehmen wollen von Herstellern von Maschinen zu Digitalunternehmen werden, auch als Abwehrstrategie gegen Softwareunternehmen wie Alphabet und IBM.

Beim Wandel allerdings wählt GE einen deutlich disruptiveren Ansatz als die deutsche Konkurrenz, analysiert der Economist. GE ist zentraler als Siemens organisiert und doppelt so profitabel. Es sei daher kein Wunder, dass „beide Unternehmen verschiedene Wege bei der Digitalisierung gehen.“ Anfang 2016 verlegte GE seinen Unternehmenssitz von der amerikanischen Provinz im Bundesstaat Connecticut ins urbane Boston, um jüngere, kreativere Mitarbeiter anzulocken. Das Unternehmen ist überzeugt, dass im Kern der neuen industriellen Ära Software stehen wird. Während sich GE komplett neu erfinde, bleibe Siemens nah an den eigenen Wurzeln.

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„Predix wird häufiger in meinen Gesprächen mit industriellen Kunden genannt.“

Auch die IoT-Plattform Predix scheint schon weiter als die deutsche Konkurrenz Mindsphere. GE kann zahlreiche Kunden über unterschiedlichste Branchen hinweg vorweisen – von Energieversorgung über Gesundheitswesen und Eisenbahnen bis zur Luftfahrtindustrie.  Zu den Kunden gehören laut GE unter anderem Unternehmen wie Akzo Nobel, Schindler, Eon und BP. Auch das japanische Unternehmen Lixil nutze Predix, ebenso wie Rasgas in Katar oder Pitney Bowes on den USA. Der Schweizer Aufzugbauer Schindler nutze Predix beispielsweise, um seine eine Million Aufzüge und Rolltreppen über das industrielle Internet zu vernetzen. „Schindler beobachtet, wie gut die eigenen Produkte funktionieren. Predix hilft ihnen, den Datenstrom der angeschlossenen Aufzüge und Rolltreppen zu analysieren, sodass mögliche Wartungsfälle gelöst werden, bevor sie akut werden“, sagt der GE-Sprecher.

BP nutzt das System unter anderem, um die Sicherheit von Öl- und Gasförderstätten zu verbessern – derzeit noch im Rahmen eines Piloten ausschließlich im Golf von Mexiko. „Kommendes Jahr wird das auf alle Produktionsstätten von BP ausgeweitet.“ Das werde der bisher größte Einsatz der Predix-Technik.

Im Zentrum von Predix steht dabei immer, was GE den „Digital Twin“ nennt. Dieser digitale Zwilling ist eine virtuelle Entsprechung der zahlreichen Maschinen und ihrer Bauteile in der echten Welt. „Fabriken können nicht in einzelnen Silos automatisiert werden – sie brauchen eine gemeinsame Plattform, um die einzelnen Wirtschaftsgüter zu managen – bevor sie in der Fabrik ankommen, in der Fabrik selbst und danach.“

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Auch Partnern, die Predix selbst nutzten oder eigene Dienste auf Basis von Predix anbieten, kann GE viele nennen. Dazu gehörten Unternehmen wie T-Systems, SAP, Bosch, Microsoft, Intel, Dell, Hewlett Packard Enterprise, Orange, Pricewaterhouse-Coopers, Accenture, Ernst & Young, TCS, Altran, Capgemini, Vodafone und Bearing-Point. Das französische Unternehmen Altran hat beispielsweise smarte mit Sensoren ausgestattete Arbeitskleidung auf Basis von Predix entwickelt, die mit den Maschinen der Fabrik kommuniziert. „Damit werden Maschinen automatisch abgestellt, sobald einem Arbeiter ein Stromschlag droht.“

Die Investitionen in Software machen sich auch beim Umsatz bemerkbar. Vergangenes Jahr sei der Umsatz mit Software bei GE um 25 Prozent auf 7 Milliarden Dollar gewachsen. „Damit ist GE das am schnellste wachsende digitale Industrieunternehmen der Welt.“ Bis 2020 will GE 15 Milliarden Dollar mit Software umsetzen.

Gartner sieht Vorsprung von GE vor Siemens bei IoT-Plattform

Auch der Branchenanalyst Gartner sieht einen Vorsprung von Predix. „Predix wird häufiger in meinen Gesprächen mit industriellen Kunden genannt“, sagt Alfonso Velosa, Vice President der Research-Abteilung von Gartner. „Über Mindsphere reden Kunden erst seit kurzem.“ Sehe man sich beide Softwareplattformen aber genauer an, hätten beide ähnliche Stärken und jeweils ihre eigenen Schwächen. Noch habe sich kein Unternehmen als dominanter Player in irgendeinem der industriellen Märkte etabliert. Signifikante Umsätze machen beide Unternehmen mit ihren Lösungen noch nicht, so eine Gartner-Schätzung. Siemens und andere europäische Unternehmen könnten also noch aufholen.

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„General Electric hat einen gewissen Vorsprung vor Siemens, weil es traditionell mehr Erfahrung darin hat, die eigenen Produkte bei Kunden zu bewerben und sie weiterzubilden“, sagt Gartner-Experte Velosa. Im Zuge des industriellen Internets sei das von Vorteil, da die eigentliche Aufgabe der Unternehmen nun sei, den Kunden beizubringen, zu was das Internet der Dinge eigentlich gut ist. Dabei gehe es nicht nur darum, bestehende Prozesse effizienter zu machen, sondern auch ganz neue Geschäftsmöglichkeiten auszuloten. Allerdings traut er hier Siemens auch noch einen Wandel zu – zumal vor beiden Unternemen noch ein langer Weg liege.

Zur Konkurrenz von GE will sich Siemens nicht direkt äußern. „Als einziges Unternehmen bietet Siemens das komplette Betriebssystem an: von der Konnektivität, der Plattform als Dienstleistung – der PaaS –, bis hin zu Apps und digitalen Services“, heißt es dann aber doch. Damit könnten „Kunden die enormen Datenmengen ihrer Anlagen schnell und effizient auswerten und Schwachstellen aufdecken – und Leistung und Verfügbarkeit ihrer Produktion nochmals deutlich steigern.“ Wie viel Geld Siemens in Mindsphere investiert hat, will das Unternehmen nicht verraten. GE gibt an, dass es seit 2011 eine Milliarde US-Dollar in das eigene Software-Geschäft investiert habe.

Mindsphere können Kunden beim deutschen Software-Anbieter SAP hosten, im Laufe des Jahres 2017 soll auch Microsofts Cloud-Dienst Azure dazukommen, sagt der Siemens-Sprecher. Kunden sollen auswählen können, in welchem Land die Daten gespeichert sind.

Auch GE und Microsoft haben eine Partnerschaft für Azure verkündet. „Wir werden Entwicklern eine Preview auf der Veranstaltung GE Minds + Machines im November geben und Predix auf Azure im Laufe des Jahres anbieten“, sagt ein GE-Sprecher. Aktuell kann Predix auf den Servern von Amazons Cloud-Dienst AWS gehostet werden. „Die Mehrheit unserer Kunden nutzt unser Cloud-Angebot“, sagt der Sprecher.

Das Rennen der Industrie-4.0-Plattform ist noch offen

Beim Plattform-Rennen in der Industrie 4.0 scheinen damit die Amerikaner derzeit wieder einmal die die Nase leicht vorne zu haben – auch wenn das Rennen noch lange nicht entschieden ist. Vieles spricht auch dafür, dass es so etwas wie ein „Android der Industrie“ – also eine einheitliche dominante Software-Plattform, die für alle die Standards setzt – gar nicht geben wird. „Das industrielle Internet ist kein einheitlicher Markt“, sagt Gartner-Experte Velosa. „Es handelt sich um eine komplexe Mischung verschiedener Märkte, eine Vielzahl verschiedener Geschäftspraktiken und Standards sowie einer großen Bandbreite an Unternehmen rund um die Welt.“

Alle Unternehmen hätten nun einen jahrelangen Prozess in Richtung eines digitalen Geschäftsmodels, glaubt der Experte, „die eine Reihe von Änderungen für die existierenden Geschäftspraktiken und Infrastruktur benötigen, deren Aufrüstung nicht Jahre, sondern Jahrzehnte benötigt.“ Die eigentliche Herausforderung werde es sein, die Kultur zu verändern und damit die Regeln und Abläufe, die Mitarbeiter in diesen Branchen folgen. „Das mit einer ‚Android-artigen’ Lösung abzudecken, wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Es dauert noch mindestens fünf Jahre bis wir so etwas eine Ökosystem-Dominanz erreichen.“ Für Europa bliebe jetzt also noch Zeit, erstmals in der IT-Industrie Standards zu setzen.

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Kommentare (2)

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speedr4cr

Bei Android und iOS hat sich das „Software is eating the world“ Mantra ja in Perfektion erfüllt. Falls das auch bei der industriellen Vernetzung gewinnt, sehe ich GE deutlich vorne, denn dort hat man anscheinend schon den nötigen Kulturwandel geschafft. Anders Siemens: Wer 2017 eine Entwicklerplattform herausbringt, die weder unter http://www.mindsphere.com noch bei https://github.com/mindsphere zu finden ist, sollte sich fragen, ob er die Sache ernst genug nimmt. (Immerhin mindsphere.io hat man mit einer Weiterleitung versehen…)
GEs https://www.predix.com/ bzw https://www.predix.io und https://github.com/predix sehen da schon ganz anders aus.

Hans-Georg Torkel

Wenn wir führend werden wollen ist ein modulares Paket (Software, Hardware, soziale Innovationen) Industrie 4.0 notwendig. Wenn Deutschland sich auch gleich um neue Arbeitsmärkte für die durch Industrie 4.0 freiwerdenden Arbeitskräfte kümmert. Letzteres könnten besondere Alleinstellungsmerkmale für Deutschland werden.

Alles ist in Deutschland, sogar aus einer Hand vorhanden. Deutschland will wieder das Land der Dichter, Denker und Erfinder werden.
Eine Story, die sich lohnt.
http://www.innovationshaus.eu

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