
Die Startup-Szene sieht sich schwierigen Bedingungen ausgesetzt: Die wirtschaftliche Lage und ausbleibende Investitionen gelten als große Wachstumsbremsen, die zuletzt vielerorts zu Personalabbau geführt haben. Andererseits benötigen Jungunternehmen weiterhin Fachkräfte mit speziellen IT-Fähigkeiten, um ihren Wachstumskurs voranzutreiben. Die Herausforderung ist, genau die Menschen ins Unternehmen zu holen, die für konkrete Aufgaben benötigt werden. Oft finden sich die im Ausland.
Martin Böhringer ist Gründer des HR-Startups Staffbase und auch er sucht Personal auf dem globalen Arbeitsmarkt. Im Chemnitzer Hauptsitz arbeiten Beschäftigte aus 15 Nationen, darunter Frankreich, Pakistan, Tschechien, die USA und die Ukraine. „Ein großer Teil des Teams kommt von außerhalb und wir profitieren von dem Mix aus Perspektiven, Fähigkeiten und Erfahrungen.“ Böhringer spricht sich deshalb für eine vorwärts gewandte Einwanderungspolitik aus. Und ist damit nicht allein.
Ausländische IT-Fachkräfte ein Wachstumsfaktor
Der Startup-Verband und Stepstone haben das Thema im Rahmen des Papers „Internationale Talente als Wachstumsfaktor“ genauer untersucht und stellen unter anderem dem Visaverfahren ein „sehr negatives“ Zeugnis aus. So bemängeln 40 Prozent der Startups und 57 Prozent der Scaleups die Dauer. 45 Prozent der Startups und 49 Prozent der Scaleups kritisieren die Komplexität. Hürden zu nehmen, sei zentral. Visaprozesse sorgen für Probleme im Recruiting ausländischer Fachkräfte, heißt es.
„Um im internationalen Wettbewerb nicht weiter ins Hintertreffen zu geraten, muss Deutschland bei der Visavergabe endlich digitaler, schneller und unkomplizierter werden – sonst sind die besten Programmierer längst in anderen Ländern beschäftigt, noch bevor sie hier überhaupt einen Termin bei der Deutschen Botschaft bekommen“, so Magdalena Oehl, stellvertretende Vorsitzende des Startup-Verbands. Die Bundesrepublik steht primär mit den USA, Frankreich und England in ständiger Konkurrenz.
Problematisch sei zudem, dass bei der Visavergabe nach Bedingungen entschieden wird, die kaum mit den Jobanforderungen der Jungunternehmen zusammenpassen: 29 Prozent der Startups und 25 Prozent der Scaleups bemängeln, dass die Anerkennung von Berufs- und Bildungsqualifikationen zu streng ist. 34 Prozent der Startups und 25 Prozent der Scaleups kritisieren außerdem, dass die Sprachanforderungen zu hoch sind. So sind die Visaverfahren vorwiegend in deutscher Sprache gestaltet. Das grenzt aus.
Tatsächlich wird in den Firmen nämlich oft gar nicht Deutsch gesprochen. Wie der Startup-Verband mitteilt, ist Englisch in 34 Prozent der Startups die erste Arbeitssprache. In den Scaleups geben das sogar satte 74 Prozent an. Die Visaverfahren in englischer Sprache zu organisieren, würde insofern die Barrieren beim internationalen Recruiting deutlich senken und für mehr Effizienz sorgen. Damit steigern Startups, aber vor allem auch Scaleups ihre Attraktivität als internationale Arbeitgeber, heißt es.
Visaverfahren beschleunigen: Politik justiert nach
Die Kritik geht indes über die Stimmen der Startup-Szene weit hinaus. Vereinfachte Visaverfahren sind für die Gesamtwirtschaft von großem Interesse. Deshalb hat das Auswärtige Amt vergangenes Jahr den „Aktionsplan Visabeschleunigung“ verabschiedet. Der Plan umfasst einige wichtige Veränderungen. So ist nicht nur die Aufstockung des Personals in den Visastellen geplant, sondern auch die vollständige Digitalisierung des nationalen Visumverfahrens bis zum 1. Januar 2025.
Das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Monaten die Visaprozesse etwas beschleunigen können. Insbesondere bei deutschen Unternehmen in Indien sei das zu spüren. So sei die Wartezeit für Anträge in Indien auf ein Visum für Deutschland mittlerweile auf zwei Wochen verkürzt. Früher habe sie bei neun Monaten gelegen, so die Behörde. Die Vereinfachung berührt primär Visumanträge von indischen Fachkräften, die zu zeitweiligen Einsätzen in die deutschen Zentralen kommen.
„Die schrumpfende Bevölkerung bedroht unseren Wohlstand, Deutschland steuert sehenden Auges in die große Arbeiterlosigkeit“, sagt Sebastian Dettmers, CEO von Stepstone. „Deutschland ist mehr denn je auf qualifizierte Einwanderung angewiesen – das gilt insbesondere für wachstumsstarke Unternehmen.“ Es brauche ein zukunftsorientiertes Einwanderungssystem. „Wir müssen dafür sorgen, dass Unternehmen und internationale Talente schneller zusammenfinden.“
Auch Willkommenskultur spielt große Rolle
Eine weitere Herausforderung, die sich Deutschland stellen muss, ist weniger bürokratischer, sondern kultureller Natur. Viele ausländische Fachkräfte nehmen den Standort Deutschland als unattraktiv wahr. Im jährlichen Expat-Insider-Bericht von Internations landete die Bundesrepublik bei der Beliebtheit auf Platz 49 von 53. Ein Ghanaer sagt: „Ich finde die Kultur super isolierend […]. Es ist fast unmöglich, Freunde zu finden, und ich habe immer Angst, gegen eine Regel zu verstoßen.“
Zudem ist insbesondere die Digitalwirtschaft besorgt angesichts rechtsextremer AfD-Landesverbände in Ostdeutschland. Der Präsident des Bitkom, Bernhard Rohleder, sagt: „Wir erleben in Deutschland einen Rekord-Fachkräftemangel. Ende 2023 waren 149.000 IT-Jobs unbesetzt.“ Ohne qualifizierte Zuwanderung könne Deutschland die Fachkräftelücke nicht mehr schließen. Dafür stehe die AfD in Ostdeutschland jedoch nicht. „Sie zieht Mauern hoch, wo wir Offenheit brauchen.“
Sehr deutlich hat sich der Branchenverband der IT auch zu der Bundes-AfD im März geäußert. In einem Positionspapier heißt es: Die AfD verhalte sich „in ihrer politischen Grundhaltung wie auch in ihren einzelnen Vorschlägen und Forderungen scharf gegen die Interessen der digitalen Wirtschaft.“ Internationale Spitzenkräfte, so Rohleder, könnten sich aussuchen, wo sie arbeiten. „Deutschland muss nicht nur als Wirtschaftsstandort, es muss auch als Lebensmittelpunkt hochattraktiv sein.“