- Systeme mit maschinellem Lernen suchen die beste Bewerberin
- Die eigene Bewerbung getestet
- Lebenslauf einer Journalistin: "Das bringt unseren Parser in Schwierigkeiten"
- Wie könnte ich meinen Lebenslauf optimieren?
- "Angriffe" auf Bewerbungs-Software
- Bewerber-KI gegen Recruiter-KI
- Techniken wie bei der Suchmaschinenoptimierung
- Die seltsamen Blüten bei Vorstellungsgesprächen
- Big Data, um Mitarbeiter:innen den nächsten Karriereschritt zu bieten
- Das KI-Sytem findet passende Stelle für die Bewerberin
Karriere: Wenn die KI-Software die Bewerbung und das Recruiting übernimmt
Mein Lebenslauf ist – wenn überhaupt – für Menschen optimiert. Seine Struktur ist schnell zu erfassen. Wenn ihn meine künftige Chefin liest, kann sie gleich entscheiden, welche Aspekte meines professionellen Lebens sie sich zuerst anschaut: Berufserfahrung, Ausbildung, Fortbildungen, Auszeichnungen. Trotzdem könnte es sein, dass mein Lebenslauf nicht gut bei ihr ankommt. Oder auch: gar nicht ankommt, warnt mich Stefan Gerth, der das Unternehmen „Die Bewerbungsschreiber“ gegründet hat.
Denn in vielen Unternehmen werden Lebensläufe maschinell vorgefiltert und auch mit ChatGPT verfasste Bewerbungen werden erkannt und nicht gern gesehen (und unter Umständen aussortiert). So können sich die Recruiter auf die vielversprechendsten Kandidaten konzentrieren können. „Bewerber wissen oft nicht, dass ihr Lebenslauf automatisch ausgelesen wird“, sagt Gerth. Insbesondere zweispaltige Lebensläufe seien eine Herausforderung für diese Software, warnt er mich. Außerdem sei es wichtig, die richtigen Keywords in der Bewerbung zu haben. Mein Lebenslauf ist zweispaltig – und über Keywords habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.
Dieser Text stammt von der Autorin Eva Wolfangel und ist zuerst in der Ausgabe 4/2022 von MIT Technology Review erschienen. Hier könnt ihr die TR 4/2022 als Print- oder pdf-Ausgabe bestellen.
Menschen wie Stefan Gerth helfen Menschen wie mir, mit der maschinellen Auslese besser zurechtzukommen und die eigene Bewerbung daran anzupassen. Rund um das Auslesen von Lebensläufen, sogenanntes CV-Parsing, hat sich eine eigene Industrie gebildet. Denn auch wenn es zunächst darum geht, die Inhalte in die entsprechenden Datenbanken der Unternehmen einzutragen, findet dabei schon eine gewisse Vorauswahl statt.
Systeme mit maschinellem Lernen suchen die beste Bewerberin
Schließlich spielt es eine Rolle, inwiefern die Maschine eine bestimmte Qualifikation erkennt, als wie relevant oder aktuell diese angesehen wird und ob Recruiter, die nach dieser Qualifikation suchen, die Bewerberin auch präsentiert bekommen, wenn diese einen anderen Begriff dafür gewählt hat. Der nächste Schritt im automatischen Bewerbungsprozess ist ein Ranking beziehungsweise Matching: Welche Bewerberin passt am besten auf die ausgeschriebene Stelle? Da es hierbei darum geht, Muster zu finden, scheint es naheliegend, dafür Systeme des maschinellen Lernens einzusetzen.
Joachim Diercks, Geschäftsführer der Cyquest GmbH, einer Beratungsfirma für Recruiting, hofft tatsächlich, „dass der Recruiting-Prozess dadurch in Zukunft qualitativ besser wird“ – auch wenn er warnt, dass die Systeme heute noch nicht besonders gut funktionieren. Unternehmen könnten so künftig Bewerber:innen finden, die sie mittels manueller Auswahl übersehen hätten. Menschen könnten neue Entwicklungsmöglichkeiten finden, weil sie Qualifikationen haben, von denen sie nicht wissen, dass die in ein bestimmtes Job-Profil passen. Aber wie diese Recherche im Jahr 2022 zeigt, läuft noch vieles schief. Neben den Unzulänglichkeiten der Systeme gibt es Angriffe auf die Software, die deren Schwächen aktiv ausnutzen. Dazu kommen die typischen Probleme von algorithmischen Entscheidungssystemen wie Intransparenz oder Verzerrungen in den Trainingsdaten.
Die eigene Bewerbung getestet
Ich nehme mir Stefan Gerths Hinweis zu Herzen und teste meinen Lebenslauf. Dafür nutze ich das System von Joinvision, einem der Marktführer im CV-Parsing im deutschsprachigen Raum. Joinvision bietet auf der Webseite an, das Tool „Cvlizer“ zu testen. Tatsächlich spuckt das System seltsame Dinge aus, nachdem es meinen Lebenslauf analysiert hat. Selbst Textangaben wie „Oktober 2015 bis Juni 2017“ erkennt das System nicht, sondern macht daraus „2015-10“. Ich bekomme zahlreiche Visualisierungen zu meinem Lebenslauf, unter anderem eine Grafik zur „Karriereleiter“, die nicht über „Lehrling, Mitarbeiter“ und „universitäre Bildung“ hinauskommt.
Als Höhepunkt ordnet es ein Datenjournalismus-Projekt aus meinem Lebenslauf der Branche „Herstellung von Nahrungs- und Futtermitteln“ zu – obwohl aus diesem Bereich kein Stichwort vorhanden ist. Zudem geht das Tool davon aus, dass ich 14 Jahre lang am Massachusetts Institute of Technology studiert habe, ohne einen Abschluss zu erwerben, und vermutet bei zwei Jobs, dass der Arbeitgeber das MIT ist (was es nicht ist). Dabei kommt das MIT nur einmal in meinem Lebenslauf vor – nämlich als einjähriges Fellowship.
Und obwohl die Software davon ausgeht, dass ich mein halbes Erwachsenenleben am MIT verbracht habe, wird bei „Auslandserfahrung“ ausschließlich Deutschland angegeben. Dafür habe ich laut Joinvision erstaunliche Fähigkeiten erworben: Robotik, Künstliche Intelligenz und Informatik bescheinigt mir das System zu „100 Prozent“, Psychologie zu 80 Prozent und Luftfahrt / Verteidigung mit 35 Prozent. Erst dann kommt Publizistik mit 28 Prozent – trotz zahlreicher journalistischer Stationen und keiner einzigen in einem KI-, Robotik- oder Luftfahrt-Unternehmen. Unter „Kompetenzkurven“ sehe ich meine Kompetenz für KI, Robotik und Informatik steil ansteigen, die für Publizistik hingegen geht seit mehr als 15 Jahren steil bergab. Meine künftige Chefin im Journalismus würde meine Bewerbung also sicher nicht in den Top 10 vorfinden – und jene Unternehmen, die jemanden aus der Robotik suchen, würden mich enttäuscht aus dem Vorstellungsgespräch entlassen.
Lebenslauf einer Journalistin: „Das bringt unseren Parser in Schwierigkeiten“
Joinvision-Gründer Wolfgang Gastager vermutet, der Hintergrund sei mein ungewöhnlicher Lebenslauf: Als Journalistin, die über diese Themen schreibt, sei ich ein Sonderfall. „Das bringt unseren Parser in Schwierigkeiten.“ Er beschäftigt sich seit 16 Jahren mit dem Auslesen von Informationen aus Texten und hat alle Kinderkrankheiten der Software durchgemacht: So seien anfangs Menschen, die in der Bäckerstraße wohnten, oft als Bäcker einsortiert worden, und der Ort Baden wurde beliebig der Schweiz, Deutschland oder Österreich zugeordnet. „Wir haben da sehr gekämpft“, sagt er. Nach diesen Erfahrungen habe das Unternehmen beschlossen, sich ausschließlich auf die harten Fakten wie Adressdaten und Skills zu konzentrieren. Ein Problem habe sein System vor allem dann, wenn Lebensläufe einen hohen grafischen Anteil aufweisen. Joinvision nutze zwar auch Schrifterkennung, aber diese starte nur, wenn der ganze Lebenslauf aus einem Bild bestehe.
Weil er um die Schwächen der Systeme weiß, rät Gastager Unternehmen davon ab, sich maschinell die zehn besten Bewerber auf eine Stelle präsentieren zu lassen. „Das ist ganz dünnes Eis.“ Besser sei es, 50 Prozent aussortieren zu lassen, die nicht geeignet seien. (Unter diesen wäre dann vermutlich meine Bewerbung auf eine journalistische Stelle.) „Immer wenn wir ein Ranking präsentiert haben, hat das zu riesigen Diskussionen geführt“, erklärt Gastager, „die Kunden wollten dann immer wissen, warum der Erste der Geeignetste ist.“
Wie könnte ich meinen Lebenslauf optimieren?
Bräuchte ich mehr passende Stichworte? Das ist ein Tipp, den ich immer wieder höre: Stichworte einstreuen, die zum Job passen. Manche Bewerber:innen sind sehr kreativ und schreiben diese als Metadaten ins Dokument oder wiederholen sie oft und in weißer Schrift auf weißem Untergrund – Menschen bemerken das nicht, Maschinen aber schon. Bewerbungsberater Stefan Gerth glaubt, dass es hilft, wenn relevante Stichworte öfter vorkommen. „Wenn das Wort einmal mehr vorkommt, kann es ein Matching beeinflussen.“ Aber nur wenn es auch wahr und relevant ist, warnt Gastager: „Unsere Software erkennt, ob die Keywords in einem Zusammenhang stehen.“ So werden Fähigkeiten in Java beispielsweise höher gewertet, wenn der Bewerber sie jüngst eingesetzt hat, als wenn er sie vor zehn Jahren mal in einem Job brauchte. „Uns kann man nicht so einfach überlisten, da müsste man komplette Berufsphasen zusätzlich hineinschreiben.“
Doch manche Optimierungen für das menschliche Auge bringen die Systeme durcheinander. Stefan Knichel, Marketing Manager bei Textkernel, sagt, dass immer mehr Lebensläufe sehr kreativ gestaltet seien, zum Beispiel in Spalten oder mit grafischen Elementen: „Kreative Lebensläufe sind schwieriger einzulesen“, sagt er, wenngleich der Textkernel-Parser mittlerweile auch mehrspaltige Lebensläufe beherrsche.
Textkernel, neben Joinvision der Platzhirsch beim deutschsprachigen CV-Parsing, untersucht für seine Kunden nach eigenen Angaben über 830 Millionen Lebensläufe im Jahr und arbeitet „mit sieben von zehn großen internationalen Personalvermittlern“ zusammen. Das Unternehmen, das 2001 als Ausgründung der Uni Amsterdam gegründet wurde, setzt beim CV-Parsing vor allem auf maschinelles Lernen. „Das Problem ist: Je transparenter man im Matching sein will, umso schwieriger wird es, KI zu verwenden“, sagt Henning Rode, der bei Textkernel in der Forschung arbeitet. „Wenn ich Dokumente nur auf der Basis von Deep Learning vergleiche, kann es intransparent werden“, erklärt er, „und auch Fairness kann zum Problem werden“. Denn möglicherweise bemerkt der menschliche Recruiter eine systematische Benachteiligung durch die KI nicht. Dennoch ist Rode überzeugt, dass KI in Zukunft besser als Menschen erkennen kann, welche Jobs und welche Menschen zusammenpassen.
Textkernel experimentiert aktuell damit, wie sich nur einzelne Elemente einer Bewerbung mithilfe von KI matchen lassen, indem Stellenanzeigen und einzelne Passagen maschinell auf Ähnlichkeit überprüft werden. Fairnessprobleme ließen sich so leichter feststellen und könnten durch Anpassung der Trainingsdaten, auf denen die Modelle basieren, leicht korrigiert werden, behauptet Rode: „Außerdem können wir damit den Nutzern mehr Kontrolle über das Suchsystem geben.“
Wie reagiert das System, wenn ich beispielsweise die gesamte Stellenanzeige oder einige zentrale Punkte daraus in meine Bewerbung kopiere? „Dann werden Sie vermutlich tatsächlich hoch gerankt“, sagt Rode. Schließlich muss die Software erst noch lernen, zu erkennen, wann diese Skills real sind und wann sich die Ähnlichkeit der Ausschreibung und der Bewerbung daher ergibt, dass jemand einfach Passagen der Ausschreibung übernommen hat. Menschen würden dann zwar sehen, dass es möglicherweise doch nicht so gut passt – „manchmal gehen aber sogar die Einladungen zum Gespräch automatisch raus“, sagt Rode. Finale Entscheidungen für einen neuen Mitarbeiter würden dennoch immer von Menschen getroffen.
„Angriffe“ auf Bewerbungs-Software
Dass man Ranking-Algorithmen, die maschinelles Lernen verwenden, sogar mit ihren eigenen Waffen schlagen kann, haben die Cybersecurity-Forscherinnen Anahita Samadi und Shirin Nilizade von der University of Texas gezeigt. Nilizade hat als Assistant Professor viele Absolvent:innen bei ihren ersten Schritten ins Berufsleben beobachtet: „Mir fiel auf, dass manche bei Bewerbungen erfolgreicher waren als andere, obwohl alle die gleichen Skills hatten.“ Als sie nachfragte, erfuhr sie, dass manche „bestimmte Techniken“ nutzten, um ihre Bewerbungen zu „boostern“. In den USA nutzen viele Unternehmen entsprechende Matching- und Ranking-Algorithmen, und offenbar hat sich herumgesprochen, wie sich diese überlisten lassen. „Google beispielsweise bekommt teilweise 1000 Bewerbungen auf eine Stelle, es ist sehr umkämpft“, sagt Nilizade. Wer seine Bewerbung nicht optimiert, kommt nie auf einen aussichtsreichen Platz im Ranking.
Wie sind sie vorgegangen? „Wir kannten die Algorithmen natürlich nicht“, erklärt Samadi. „Wir haben einfach mal ein paar Angriffe ausprobiert.“ Die Forscherinnen nutzten unter anderem ein System, das die Ähnlichkeit zwischen Stellenausschreibung und Bewerbungen misst und daraus ein Ranking erstellt. Anschließend veränderten sie die Stellenausschreibung schrittweise, um dahinterzukommen, welche Stichworte vom Algorithmus für entscheidend für den Inhalt angesehen werden. Schließlich reicherten sie neue Bewerbungen um diese Keywords an. Im Durchschnitt verbesserte sich die Position der 100 Lebensläufe, die die Forscherinnen in ihrem Experiment nutzten, bei Bewerbungen auf 50 zufällig ausgewählte Stellenausschreibungen um 16 Plätze. Allerdings sagen die Forscherinnen auch, dass der Effekt rückläufig war, wenn zu viele Keywords ergänzt wurden. Offenbar „bestraft“ der Algorithmus zu viele Keywords.
Bewerber-KI gegen Recruiter-KI
In einem zweiten Test trainierten die Forscherinnen ein neuronales Netz mit Lebensläufen und den zugehörigen Bewertungen und passten Lebensläufe entsprechend an. Auch dieser Angriff führte zu „signifikant höheren Rankings“. Freilich gibt es bereits Systeme, die solche Angriffe mittels maschinellen Lernens ihrerseits versuchen zu verteidigen – der Wettlauf Angreifer gegen Verteidiger hat schon begonnen. Manche Angriffe seien in der Tat einfach automatisiert zu entdecken, erklärt Samadi, beispielsweise wilde Ansammlungen von Stichworten oder die gesamte Jobbeschreibung im Lebenslauf. „Aber wenn die Angreifer, so wie wir, die richtigen Keywords rauszukriegen versuchen und sinnvoll einfügen, ist das kaum zu entdecken.“
Auch Stefan Gerth von „Die Bewerbungsschreiber“ experimentiert immer wieder damit, wie sich Algorithmen von Textkernel und anderen Anbietern überlisten lassen. Ähnlich wie die US-Forscherinnen – nur weniger systematisch – füttert er fiktive Lebensläufe in die Systeme und ändert Kleinigkeiten, um zu sehen, ob überhaupt ein Ranking stattfindet und wie dieses dadurch beeinflusst wird. „Mit der letzten Arbeitsstelle, dem Namen des letzten Jobs, kann man ein bisschen was erreichen“, sagt er. Die Systeme bewerten die aktuelle Stelle eines Bewerbers also als deutlich relevanter als die vorangegangenen.
Allzuviel werde maschinelles Matching aber nach seiner Beobachtung in Deutschland nicht eingesetzt. Deshalb optimiert er die Lebensläufe seiner Kunden vor allem auf Auslesbarkeit und stellt sicher, dass die entsprechenden Keywords oft genug vorkommen. „Das ist kein Trick, das ist eine Optimierung“, sagt er. Er fürchtet, dass in Deutschland viele Bewerbungen aussortiert werden, weil sie nicht ausgelesen werden können. Oder weil sie Lücken haben, weil die Systeme Daten nicht richtig zuordnen oder die Gliederung nicht erkennen. „Die Frage ist, ob die Unternehmen das überhaupt merken.“
Techniken wie bei der Suchmaschinenoptimierung
Wäre es besser, wenn alle Bewerbenden ihre Lebensläufe entsprechend optimieren? Nicht unbedingt, warnen Fachleute. „Wir werden ähnliche Techniken sehen wie bei der Suchmaschinenoptimierung“, fürchtet Berater Diercks, „Keyword-Stuffing, weiß auf weiß – das sind alles bekannte Spielchen.“ Dann werde das „Rattenrennen“ starten, wie er es nennt. Wird es eines Tages ein „Google der Bewerbersuche“ geben, das entsprechende Angriffe erkennt? Und ist das dann gut? „Die Frage, ob eine KI in diesem Bereich eines Tages so richtig gut sein kann, ist für mich noch nicht beantwortet“, sagt er.
Ein Problem ist aus seiner Sicht auch die Art und Weise, wie KI lernt: nämlich aus Daten aus der Vergangenheit. Damit wird sie sehr konservative Empfehlungen geben – während sich die Anforderungen in der Berufswelt ständig ändern. „Allein in der Pandemie hat sich viel daran geändert, wie wir arbeiten“, sagt Diercks, „aber die Trainingsdaten sind von vor der Pandemie.“ Zudem sei es ein ethisches und womöglich auch ein rechtliches Problem, einen Prozess zu nutzen, der Menschen aussortiert. „Der Einsatz von eignungsdiagnostischen Testverfahren ist auch eine Datenverarbeitung psychometrischer Information.“ Laut DSGVO ist die Verarbeitung von personenbezogenen Daten nur dann zulässig, wenn sie erforderlich ist: Die Grundlage wäre also mindestens, dass diese Systeme tatsächlich helfen, eine bessere Personalentscheidung zu treffen, sagt Diercks – aber das steht derzeit infrage. Bisherige Systeme wie die Stimmanalyse hätten nicht gehalten, was sie versprochen haben – „es gab zum Beispiel nur einen geringen Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen und der berufsbezogenen Persönlichkeit“.
Vollautomatisierte Entscheidungsprozesse sind laut DSGVO ohnehin ausgeschlossen, sagt Lajla Fetic, Co-Leiterin des Programms Digitalisierung und Gemeinwohl / Ethik der Algorithmen der Bertelsmann Stiftung. Aber es gibt ein dahinterliegendes größeres Problem, warnt sie: „Wenn Algorithmen ins Spiel kommen, nimmt die Normierung und Standardisierung zu.“ Je mehr Berater den Menschen sagen, wie ihre Lebensläufe aussehen müssen, damit sie möglichst erfolgreich sind, umso ähnlicher werden die Bewerbungen. „Social Cooling“ nennt Fetic diese Selbstanpassung, die aus ihrer Sicht wenig wünschenswert ist.
Die seltsamen Blüten bei Vorstellungsgesprächen
In Deutschland wird wenig darüber gesprochen, ob und welche Unternehmen entsprechende Systeme einsetzen, „das wird schon fast versteckt“, sagt sie. In einer Studie der Uni Bamberg wurden 1.000 Unternehmen befragt, von denen lediglich 2,8 Prozent angaben, algorithmische Systeme bei der Auswahl von Bewerberinnen zu nutzen. „Das ist eine extrem geringe Zahl, diese Blackbox müsste man erst mal lüften.“ Fetic sorgt sich vor einer Entwicklung wie in den USA, wo man nicht mehr um diese Systeme herumkommt: „Das Aufrüsten findet dort schon statt.“ Und es treibt seltsame Blüten mit Unternehmen wie Hirevue, die Vorstellungsgespräche mittels KI auswerten und teilweise behaupten, Persönlichkeitsprofile erstellen zu können – auf windiger wissenschaftlicher Basis. Der Bayerische Rundfunk zeigte kürzlich die Unzulänglichkeit solcher Systeme anhand des deutschen Unternehmens Retorio, das den gleichen Kandidaten im gleichen Videointerview anders einstufte, wenn dieser vor einem Bücherregal saß anstatt vor einer weißen Wand.
Ihrer Beobachtung nach wandelt sich der Prozess in Deutschland gerade aufgrund des Fachkräftemangels weg von Matching-Systemen, die Bewerbungen aussortieren, hin zu einer gezielten Ansprache von potenziellen Interessenten beispielsweise auf LinkedIn oder mit Daten von dort. Mit ähnlichen Problemen – und entsprechenden Folgen: US-Forscherin Samadi beobachtet, dass Bewerber Keywords auf LinkedIn entsprechend anpassen, wenn sie sich bewerben. „Sie spielen damit, wie die Algorithmen funktionieren“, sagt sie. In der Regel klappe das gut, sie würden prompt angesprochen. Aber auch unabhängig davon würden „die großen soziotechnischen Einbettungsfragen nicht gestellt“ – also wie sinnvoll solche Systeme generell seien und ob der Umgang mit Bewerbern und Bewerberinnen den gesellschaftlichen Vorstellungen entspräche, kritisiert Fetic.
Bernd Schmitz hingegen kann sich eine Personalauswahl ohne automatisiertes Matching mithilfe von KI nicht mehr vorstellen. Der Leiter des Personalmarketings bei Bayer hat sich vor einigen Jahren die Mühe gemacht, systematisch zu suchen: Er bat kurzerhand vier KI-Experten aus anderen Bereichen des Unternehmens (unter anderem aus der Wirkstoff-Forschung), mit einigen Anbietern die jeweilige Programmierung und KI-Technologie zu besprechen. Sie seien sich einig gewesen, dass der US-Anbieter Eightfold helfen könne, die weltweit 800.000 Bewerbungen auf Bayer-Stellen pro Jahr auszuwerten, davon 150.000 in Deutschland.
Big Data, um Mitarbeiter:innen den nächsten Karriereschritt zu bieten
Dabei gehe es nicht nur um neue Mitarbeiter, sondern auch darum, die Bestehenden zu halten. Das System berechnet auch individuell auf Basis der Daten der Angestellten, wer wann ein neues Angebot brauche oder reif sei für den nächsten Karriereschritt. „Wenn jemand im Schnitt alle drei Jahre eine neue Stelle angetreten hat, schlägt uns unser System rechtzeitig vor, ihm etwas anzubieten“, erklärt er – und auch was. Darunter auch Stellen, für die der Betreffende sich vielleicht nicht für geeignet hält oder deren Qualifikation er formal nicht erfüllt – weil die KI aus den Billiarden von Daten berechnet, dass dessen Skills dafür richtig sind, auch wenn er bisher einen anderen Job hatte. Die Technologie verrechnet über 130 Kriterien, die sie aus dem trainierten Datenmodell von über 1,5 Milliarden Lebensläufen und 1,5 Millionen Skills extrahiert habe. „Darin stecken die Entscheidungen von abertausenden von Recruitern“, schwärmt Schmitz. Die Lebensläufe von einem Drittel der arbeitenden Weltbevölkerung dienen als Trainingsgrundlage, die offenbar aus allen erdenklichen Quellen extrahiert wurde.
Dabei lernt das System permanent, denn die Personalabteilungen geben ihre Entscheidungen wieder in das System zurück. Wobei auch hier sicherlich eine massive Normierung stattfindet, denn erfahrungsgemäß folgen Menschen den maschinellen Empfehlungen – auch wenn Schmitz betont, dass die letztliche Entscheidung freilich immer ein Mensch trifft.
Schmitz kann naturgemäß nicht sagen, welche Bewerber er übersieht oder welche möglicherweise durchs Raster fallen. „Wir haben eindeutig eine höhere Qualität in der Vorauswahl“, betont er. Es gebe auch einen Maßstab dafür: Time to present – die Zeit, die vergeht, zwischen der Anforderung eines Managers nach einem neuen Mitarbeiter, bis diesem geeignete Bewerber vorgeschlagen würden. Diese hätte sich massiv verkürzt. „Wir setzen das System in 32 Ländern ein und haben signifikante Verbesserungen.“
Das KI-Sytem findet passende Stelle für die Bewerberin
Auch vor technischen Angriffen hat er keine Sorge: Die KI lerne schließlich ständig dazu, und wenn ein entsprechender Skill keine Basis habe oder nicht plausibel sei, erscheine ein Warnsignal: „Skill to validate.“ „Selbst wenn jemand hundertmal das Wort „Python“ in die Bewerbungen schreibt, kommt er deshalb nicht in die Top 10 für die Stelle eines Python-Programmierers“, sagt er, denn darauf falle der Algorithmus nicht herein. Zudem erkenne das System auch, wenn sich jemand besser für eine andere offene Stelle eigne als die, auf die er sich beworben hat – eine Fähigkeit, die kein Recruiter abbilden könne: „Wir haben 500 offene Stellen in Deutschland, das kann keiner im Kopf haben.“
Früher hat Schmitz manchmal auf LinkedIn nachgeschaut, wenn ihm eine Information über einen Mitarbeiter fehlte. „Früher wusste LinkedIn mehr über unsere Mitarbeiter als wir selbst“, sagt er und lacht. Von LinkedIn hat er lange viel gehalten, auch wegen des umfangreichen Datenpools, den das Unternehmen hat, um eine KI zu trainieren: Schließlich hat es sowohl Lebensläufe als auch Stellenempfehlungen und sieht, welche Menschen mit welchen Qualifikationen von wo nach wo gewechselt sind. Neulich hat Schmitz gemerkt, dass er LinkedIn deutlich überholt hat. Als ihm das Portal ein Praktikum nahegelegt hat. Das wäre ihm mit seinem System nicht passiert.