Gewinn für das Web: Europa wird Apple zwingen, andere Browser-Engines unter iOS zuzulassen
Der Digital Markets Act (DMA) der EU steht kurz vor der Fertigstellung. Es handelt sich um eine Rechtsetzung, die direkt auf die sogenannten Gatekeeper im Internet abzielt und deren Einfluss auf mögliche Innovationen begrenzen soll – zumindest, soweit es deren Verhinderung betrifft.
EU erkennt strategische Bedeutung der Webkit-Engine
Dem Online-Magazin The Register liegt eine Kopie der bislang unveröffentlichten Änderungen in der vorgeschlagenen Richtlinie vor. Und die geben Entwickelnden einigen Anlass zur Freude. Denn, unter den verschiedenen Anpassungen des Entwurfs findet sich die ausdrückliche Anerkennung von „Webbrowser-Engines“ als Dienst, der vor wettbewerbswidrigen, durch Gatekeeper auferlegten Beschränkungen geschützt werden sollte. Das liest sich im Entwurf so:
Bestimmte Dienste, die zusammen mit oder zur Unterstützung von relevanten Kernplattformdiensten des Gatekeepers angeboten werden, wie z. B. Identifizierungsdienste, Webbrowser-Engines, Zahlungsdienste oder technische Dienste, die die Bereitstellung von Zahlungsdiensten unterstützen, wie z. B. Zahlungssysteme für In-App-Käufe, sind für geschäftliche Nutzer von entscheidender Bedeutung, um ihre Geschäfte abzuwickeln, und ermöglichen es ihnen, ihre Dienste zu optimieren.
Jeder Browser basiert auf einer Webbrowser-Engine, die für wichtige Browserfunktionen wie Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Webkompatibilität verantwortlich ist. Wenn Gatekeeper Browser-Engines betreiben und vorschreiben, sind sie in der Lage, die Funktionen und Standards zu bestimmen, die nicht nur für ihre eigenen Webbrowser, sondern auch für konkurrierende Webbrowser und damit für Web-Software-Anwendungen gelten.
Gatekeeper sollten daher ihre Position als Unternehmen, das zentrale Plattformdienste anbietet, nicht dazu nutzen, von ihren abhängigen gewerblichen Nutzern zu verlangen, dass diese Dienste, die der Gatekeeper selbst anbietet, als Teil der Bereitstellung von Diensten oder Produkten durch diese gewerblichen Nutzer nutzen.
Webkit-Engine als Fundament des App-Store-Geschäftsmodells
Wer die Auseinandersetzungen um die Behinderung des Fortschritts bei den progressiven Web-Apps (PWA) in den letzten Jahren verfolgt hat, wird direkt erkennen – das zielt gegen Apple. Denn der kalifornische iPhone-Hersteller erlaubt zwar den Vertrieb konkurrierender mobiler Browser über seinen App-Store. Die müssen aber im Kern alle Apples eigene Webkit-Rendering-Engine verwenden – die Grundlage des Safari-Browsers. Abgesehen von Komfort-Funktionen und dem Nutzerinterface werden damit alle Browser unter iOS, egal ob Chrome, Edge, Firefox oder Brave zu Instanzen des mobilen Safari.
Apple macht für diese Anforderungen gute Gründe geltend. Das diene einer konsistenten und sicheren, vorsehbaren Nutzererfahrung, sagen die. Tatsache ist indes auch, dass andere Systeme anders funktionieren und das nicht schlechter. Wahrscheinlicher scheint daher ein anderer Grund für das Beharren auf dem Webkit.
Vor allem für App-Entwickelnde, die mit Web-Technologien arbeiten wollen, zeigt sich die Beschränkung besonders deutlich. Denn die können natürlich in ihren PWA nur die in Webkit implementierten Web-APIs verwenden. Und das sind vergleichsweise wenige. So können PWA unter iOS ihre Progressivität weit weniger ausspielen als unter anderen Engines – manche Anwendungen sind auf diese Weise gar nicht möglich.
Es ist naheliegend, zu glauben, dass dieses Hindernis dazu dienen soll, die Entwickler in Richtung der nativen iOS-App-Entwicklung zu lenken, die von Apple kontrolliert wird. Das wiederum scheint schon deshalb besonders naheliegend, weil Apple über sein Provisionsmodell im App-Store nur von nativen Apps profitieren kann. Würde es eine Vielfalt leistungsfähiger Web-Apps geben, die schlicht über den Browser aufgerufen oder in einen Container verpackt werden könnten, stünde Apples App-Store-Geschäftsmodell zumindest vor Risiken.
Auch die strikte Kontrolle der Zahlungsflüsse zwischen Nutzenden und Entwickelnden, die in der Vergangenheit zu vielerlei Konflikten wie dem Fortnite-Rauswurf geführt hatte, stünde infrage. Denn mit einer Web-App lassen sich ebenso gut Zahlungen anbieten und organisieren. Kurzum: Apples Festhalten an Webkit dürfte kaum mit Nutzerinteresse zu begründen sein.
Bisherige Wettbewerbsprüfungen hatten weniger Webkit im Blick
Apple sieht sich schon seit einigen Jahren immer wieder neuen und andauernden Wettbewerbsrechtsüberprüfungen ausgesetzt. Unter anderem in Europa, dem Vereinigten Königreich und in den USA beschäftigen sich Wettbewerbshüter mit Apples Geschäftsmodell. Bislang allerdings schien dabei die Webkit-Engine keine größere Rolle gespielt zu haben. Das hat sich offenbar grundlegend geändert.
Zu verdanken ist diese wichtige Wendung Blogbeiträgen von Web-Tech-Befürwortern wie Alex Russell, der Kartellbeschwerde von Epic Games gegen Apple und verschiedenen Lobbying-Bemühungen wie etwa der Gründung von Open Web Advocacy. All das hat dafür gesorgt, dass die Auswirkungen von Browser-Engine-Beschränkungen bei der Ausarbeitung gesetzlicher Verteidigungsmaßnahmen gegen das mutmaßlich wettbewerbswidrige Verhalten von Apple berücksichtigt werden.
So sieht es auch Damien Geradin, Gründungspartner der Wettbewerbsrechtskanzlei Geradin Partners. Er schrieb in der vergangenen Woche in einem Blogbeitrag:
„Artikel 5 Buchstabe e wurde erweitert, um Fälle zu erfassen, in denen der Gatekeeper von geschäftlichen Nutzern verlangt, eine Webbrowser-Engine anzubieten oder mit ihr zu interagieren. Dies ist höchstwahrscheinlich als Reaktion auf die Politik von Apple gedacht, die verlangt, dass alle Browser, die auf iOS laufen, Apples WebKit-Browser-Engine verwenden – eine Politik, die nach Ansicht der britischen Wettbewerbsbehörde unter anderem die Entwicklung von Web-Apps eingeschränkt haben könnte.“
Kurzfristige Abhilfe sollten Entwickelnde dennoch nicht erwarten. Zum einen tritt der DMA voraussichtlich erst im Jahr 2024 in Kraft. Zum anderen ist Apple dafür bekannt, rechtliche Beschränkungen überaus kreativ auszulegen und deren Grenzen auszuloten – verständlich, aus Apples Sicht.