Beziehungsdreieck Medien, Influencer und Konsumenten: Wer trägt die Verantwortung?

Influencer:in – ein Beruf mit zwei Seiten. Die eine besteht aus Berühmtheit, viel Geld, Werbekooperationen und vielen, vielen Fans. Die andere Seite ist gezeichnet von Burnout, Leistungsdruck, unerbittliche Algorithmen und dadurch keinerlei Kontrolle über Erfolg und Misserfolg. Doch wer trägt eigentlich die Verantwortung, wenn es schiefläuft?
Warum die Frage nach der Verantwortung?
Das Berufsbild der Influencer:innen ist noch relativ neu und sah zunächst nach einem glamourösen Lifestyle aus: einfach alles posten und der Erfolg kommt von allein. Wenn du unterwegs bist, mach noch ein oder zwei Fotos, ist ja kein Problem. Die Realität sieht anders aus: Influencer:innen arbeiten durchaus 80 bis 100 Stunden die Woche.
Es ist eine Selbstständigkeit, die allerdings mehr noch als andere solcher Berufe von unkontrollierbaren Faktoren abhängt. Welches Content-Format bevorzugt der Algorithmus: Fotos, kurze oder lange Videos, Sketche, Musik? Was mögen die Zuschauer:innen? Wann sind sie online, wann erwarten sie neue Inhalte? Äußere Faktoren, die sich täglich verändern, bestimmen den Arbeitsalltag und den Erfolg.
Urlaub ist nicht ohne Verluste möglich: Die Abo-Zahlen gehen in den Keller. Nach dem Urlaub erstellte Inhalte werden im Zweifel weniger Menschen ausgespielt, weil der Kanal als nicht aktuell eingestuft wird. Stell dir nur einmal vor, du machst zwei Wochen Urlaub und kriegst hinterher weniger Gehalt.
Diese Always-On-Mentalität führt natürlich zu Problemen: LeFloid und Jonas Ems erzählen von Alkoholmissbrauch, Sophia Thiel von Überarbeitung und Essstörungen, Elle Mills von einem ausgewachsenen Burnout mit Panikattacken, Victoria van Violence von Depressionen.
Aber auch ohne klinische Diagnose führt es zu einer belastenden Menge Stress. Stress verursacht unter anderem Schlafstörungen und Kopfschmerzen, Gedächtnisprobleme, einen Fokus auf Hindernisse, der kreative Lösungsansätze unmöglich macht, und sogar Veränderungen der Persönlichkeit. Gestresste Menschen sind also deutlich fehleranfälliger.
Doch was tun mit diesen Fehlern? Marvin Wildhage hat mit einer nicht existierenden Creme und einem nicht existierenden Arthouse-Film Influencer:innen als „geldgeil enttarnt“. Immer wieder gibt es Videos von Zusammenbrüchen, der Youtuber Nikocado Avocado ist seit mehreren Wochen gar ganz von der Bildfläche verschwunden, die Fans befürchten das Schlimmste. Ist alles selbst verschuldet ist? Nein – die Zuschauer:innen und wir als Medien haben einen Teil der Schuld zu tragen.
1. Die Influencer:innen
Influencer:innen sind selbst dafür verantwortlich, was sie äußern. Insbesondere wenn etwas Kritisches veröffentlicht wurde, gab es mehrere Momente, in denen ein Chaos hätte verhindert werden können: als der Inhalt aufgenommen wurde, als er geschnitten wurde, als es hochgeladen wurde. Dieser Verantwortung können sich Influencer:innen nicht entziehen.
Nehmen wir als Beispiel Influencerin Vanessa Mariposa, die auf beide Streiche von Marvin Wildhage hereingefallen ist und Werbung für die Fake-Produkte gemacht hat. Spätestens als sie vor der Kamera sagte, dass die Bio-Creme Uran, Asbest und „Pipikaka Seed Oil“ enthalte, hätten die Alarmglocken läuten müssen. Ein Mindestmaß an Sorgfalt muss in jedem Job gegeben sein. Nichts anderes ist das Influencer:innen-Dasein: ein Job.
Genauso sind sie dafür verantwortlich, sich mit ihrer Verantwortung durch ihre Reichweite auseinanderzusetzen und sich, wie Marketer:innen, mit gesellschaftlichen Themen wie dem Gendern auseinanderzusetzen. Gezielte Provokation geht nur, wenn sie sich vorher ausgiebig informiert haben – beleidigende Begriffe zu benutzen, ist schlicht falsch, und dafür tragen sie die volle Verantwortung.
Warum nicht einfach den Job wechseln?
Wenn der Job zu stressig ist, sollen sie ihn halt wechseln, heißt es oft. Hier unterscheiden sich Influencer:innen nicht von anderen Berufstätigen: Sie haben einen Beruf gewählt, weil er ihnen attraktiv schien, sie mögen ihn eigentlich, sie haben gelernt, wie der Hase läuft. Jetzt in eine andere Branche zu gehen, würde bedeuten, komplett umzusatteln und sich neu ausbilden zu lassen – was auch finanzielle Einschnitte bedeuten kann.
Auch andere Branchen sind enorm stressig – beispielsweise das Gesundheitswesen oder die Werbebranche. Allen dort Beschäftigten zu raten, den Job zu wechseln, ist keine Lösung.
Hilfreicher für alle wäre es, wenn die Arbeitsbedingungen verbessert würden, insbesondere in den genannten Branchen. Dazu gehört in einem ersten Schritt, Influencer:innen als normal berufstätig anzuerkennen – und nicht als Social-Media-Clowns abzuwerten.
Dazu kommt, dass das Influencer:innen-Dasein wie eine Selbstständigkeit künstlerische Freiheit und berufliche Selbstbestimmung versprach. Auf halbem Wege allerdings wurde klar, wie sehr die Algorithmen den Arbeitsalltag diktieren. Der Job ist weniger das Problem, sondern die Abhängigkeit von externen Plattformen, die strikte und unrealistische Vorgaben schaffen. Versuch mal, Freelancer:innen zu erzählen, wann sie wie ihre Arbeit machen sollen – und schlag ihnen vor, die Branche zu wechseln, wenn sie sich weigern.
2. Die Konsument:innen
Die Konsument:innen haben den längsten Hebel. Die Formate, die du als Konsument:in anklickst, werden seitens der Algorithmen mehr gefördert. Die Themen, die du klickst, werden mehr gespielt, weil sie interessant und erfolgreich sind. Wenn den freundlichen Travel-Vlog niemand schaut, sondern alle auf das Video mit dem Nervenzusammenbruch klicken, dann ist wenig verwunderlich, dass der Drama-Anteil auf dem Kanal steigt. Du definierst, was für Influencer:innen Erfolg ist und welche Inhalte für das Influencer:innen-Gehalt sorgen. Wenn du dir das Drama ansiehst, produzierst du aktiv weiteres Drama.
Auf der anderen Seite sehen die Influencer:innen: Videos, in denen ich Fehler mache, etwas Provokantes sage oder komplett fertig mit den Nerven bin, dann wollen die Leute das sehen. Egal, ob sie diesen Content produzieren wollen – das sind die Inhalte, die ihre Rechnungen bezahlen.
Das heißt: Mit den Klicks, Views und Kommentaren tragen auch Konsument:innen die Verantwortung für die Inhalte, die mehr Reichweite kriegen, und bestimmen mit, welche Inhalte von Creator:innen produziert werden. Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist einfach. Vor dem Klick auf das Video kurz fragen: Will ich das wirklich sehen? Interessiert mich das Thema wirklich? Oder klicke ich es gerade an, weil es mir serviert wird und ich vermute, dass es ein Aufreger ist?
3. Die Medien
Medien, darunter auch wir bei t3n, können sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Du findest bei uns nur einen Artikel über Nikocado Avocado – den, in dem wir über sein Verschwinden berichten. Dort sind seine Videos eingebunden. Ein Großteil der Online-Berichterstattung lebt von Sensationen – meistens Katastrophen, Fehlern oder Shitstorms. Um Nutzer:innen den bestmöglichen Einblick zu verschaffen und das Thema zu illustrieren, werden Inhalte wie Youtube-Videos eingebettet. Außerdem signalisiert das Google, dass wir unsere Inhalte mit verschiedenen Medienformaten verständlich machen wollen.
Damit verstärken wir erneut den Effekt, dass Sensationsinhalte mehr Reichweite, Views und Engagement erhalten. Auch Medien signalisieren Influencer:innen: Nur wenn du Fehler machst, provozierst, zusammenbrichst oder Videos postest, in denen etwas Katastrophales geschieht – nur dann bist du es wert, dass wir über dich berichten.
In den Onlinemedien spielen wir mit der Sensationsgier unserer Leser:innen und überschreiten damit zu oft Grenzen. Meistens ist es nicht nötig, den Inhalt einzubetten und extra Engagement darauf zu lenken. Selten verstärken die Inhalte wirklich ein Argument.
Oft sind die Videos und Posts nur da, um die Verweildauer auf der Seite zu erhöhen, indem wir eine Sensationsgier nutzen – auf Kosten der Influencer:innen oder mit dem Risiko, dass wir schädlichen Positionen und Provokationen Raum geben.
Fassen wir uns an die eigene Nase
Wichtig ist, nicht aus den Augen zu verlieren, wie groß das Influencer:innen-Geschäft ist. Es ist ein eigener Markt mit schwierigen Arbeitsbedingungen – und viele Influencer:innen haben beispielsweise Angestellte, für die sie wiederum auch verantwortlich sind.
Sie sind definitiv für ihre Inhalte und Fehler darin selbst verantwortlich – wir in Teilen aber auch. Wenn uns nicht gefällt, welche Inhalte viral gehen und produziert werden, dann sollten wir nicht vorrangig einzelne Individuen zur Verantwortung ziehen, sondern das ganze Ökosystem aus Influencer:innen, Plattformen, Medien und Konsument:innen.